In der Kinemathek in Lissabon hält der französische Bildtheoretiker Jean Louis Schefer im Jahre 1997 einen Vortrag mit dem Titel „Kinematographien“. Darin verfolgt er die Idee einer Genealogie der Bilder ausgehend von der Szene von Golgatha.
Auf den ersten Blick erscheint diese Idee nur sinnvoll innerhalb einer christlichen Bildtheorie. Im größeren Zusammenhang einer Geschichte der Bilder stellt sich diese Perspektive jedoch als experimentelle Herangehensweise heraus. Sie trifft ins Herz unserer ästhetisch-liturgischen Untersuchungen.
„Der Gott unserer Religion stirbt am Kreuz für den Loskauf der Menschheit. Er stirbt wie ein Mensch, im Körper eines Menschen, an einem Kreuz. […] Dieser Körper, der der Körper eines Menschen ist, repräsentiert nicht den Gott, der dieser Mensch war. Dieser Gott wird unsichtbar bleiben bis zum Ende der Zeiten. […] Das Wort oder der Logos hat also kein Porträt.“1
Demzufolge ist ein Bild „nicht die Gegenwart, sondern die Beschwörung (évocation) des verschwundenen Subjekts, es erinnert (commémore) dieses Verschwinden. Der Sinn wird nicht erhalten (tenu) durch die Linienführung der Form. […] Gott hat die menschliche Form verlassen.“2
Das Kino, seine Vorläufer und Nachfolger, hat nun in zahlloser Art mit der menschlichen Form und das heißt mit dem menschlichen Körper gespielt, ihn aufgenommen, bearbeitet etc. Und siehe da, der Körper erscheint als eine Fiktion. Das liegt einerseits an der Kraft der aufgenommenen Bilder, andererseits erscheint aber auf dem Bildschirm bzw. der Projektionsfläche (écran) eine reine Lichtform (transposition lumineuse) ohne körperlichen Rückhalt (support).3
„Unsere Kultur hat also eine Folge von technischen und somit formellen Erfindungen zu verzeichnen: Aufnahme von Bewegungen, Rahmungen, Einstellungen, Typen von Schnittfolgen. In dieser Logik wurde die Aufnahme des Lebens simultan zum Dokumentarfilm, d.h. zur Brutalität der Fakten und zur Parodie des Lebens; das Leben selbst ist als Fiktion (polizeilich, politisch, sentimental, formell) sichtbar geworden. Auf diese Weise hat ohne Zweifel das Kino bei der Erziehung der Gefühle (éducation sentimentale) die Rolle gespielt, die früher dem Roman zukam. Aber es hat zugleich, weil die Macht und die Struktur seiner Bilder derart beschaffen waren, die Gespenster (fantômes) kommen lassen, die man dem Gerücht nach schon kannte, nämlich diejenigen, die einfach niemals einen Körper annehmen könnten (die lieben Verstorbenen, die Vampire, aber auch alle Körper der Geschichte, die unter unseren Augen beweglich geworden sind). Es war also fatal, dass sich eines schönen Tages anlässlich dieser außerordentlichen Wiederholungen des Todes Gottes die Frage nach der Inkarnation stellte. Und diese Frage stellt sich immer wieder, nach dem selben Szenario, aus ihr besteht die gesamte Geschichte der Theologie: Ist Christus ein Mensch oder das Bild eines Menschen? Ist Christus in der Eucharistie in der Realität oder symbolisch? Ist ein gefilmter Mensch ein realer Mensch oder schon die Fiktion eines Menschen?“4
Und Schefer fasst seinen Gedanken zusammen: „Ich glaube, dass dieser Kalvarienberg ein Symptom war und ein Beispiel, denn mit diesem gewaltigen Signalmast des Kreuzes, das über die Welt aufgerichtet wurde, hat die Realität ihre Erscheinung verlassen. Ohne Zweifel ist dies das einzige Beispiel der Welt, und unser Erbe (wir haben kein anderes), bei dem die Inkarnation, der Sinn einer Form, zugleich verständlich (intelligible) und unverständlich (incompréhensible) ist, denn der Gott, der diese Form bewohnt und sie auf diese Weise geheiligt (consacré) hat, verlässt diese Form. Dieser im Bild zurückgelassene Schock, diese Narbe machen zu einem guten Teil unsere Kunst und unsere Kultur aus.“5
Deutlich sichtbar markiert dieses Trauma die bildtheoretischen Auseinandersetzungen zwischen der Ostkirche und der Westkirche. Sie führten nicht nur zur Spaltung der Christenheit, sondern setzen sich bis heute fort. Der für unseren Zusammenhang wichtigste Aspekt dieses Bilderstreits zwischen Byzantinern und Lateinern lässt sich als eine Transformation vom Bild zum Sakrament beschreiben. Was die Byzantiner rituell um die Bilder rekonstruierten, konstruierten die Lateiner formelhaft im Sakrament.6
Innerhalb ihrer Heilsökonomie hatte die byzantinische Theologie das Bild als ein „Vehikel der Erkenntnis seines Prototyps“ definiert.7 Damit war das Bild rituell der „letzte Begriff für den Ersatz (substitution) von Opfergaben, die an Götter gerichtet“ wurden. Genau hier setzt die Kritik der Lateiner an. In den Libri carolini wird der Gedanke entwickelt, dass es keine „Ersetzung (substitution) des Leibes (corps) Christi in der Form eines Bildes geben kann“.8 Denn „die sakramentalen Gaben repräsentieren nicht, sondern ihre aktuelle Wirksamkeit ist ihr Wert selbst“9. Das heißt, auch die Hostie ist kein Porträt, sondern wahrer Leib.10
Ein Bild jedoch „bedeutet (signifie) nicht das, was es zeigt (montre)“.11
Die Leere, die ein derart deklassiertes Bild hinterlässt, wird gefüllt mit einer juridisch behaupteten sakramentalen „Theorie des corpus verus, wobei wahr (vrai) hier [zugleich] wirklich, also real (réel) bedeutet (signifie)“. Ein Bild (image) ist nur noch „Einbildung“ (imagination) 12 , suspekt Phantasma, Phantom oder simulacrum zu sein13.
Inzwischen sind die sakramentalen Gewissheiten in ihrem Verhältnis zur körperlichen Wirklichkeit erschüttert. Sakramentaltheoretisch ist das Verhältnis zwischen wahr und wirklich zumindest reformatorisch diversifiziert. Hinzu kommt ein Missverhältnis zwischen der sakramentalen Intimität eines hoc est corpus meum und der körperlichen Praxis außerhalb des Sakramentes.14
Im „Zeitalter der Bilder“15 sind die sakramentalen Gewissheiten digital und pandemiebedingt zugespitzt in Frage gestellt und in Bilder geradezu hineingefallen. Da kommt ein schlichtes Festhalten an carolinischen Automatismen einer Ideologisierung im doppelten Sinne des Wortes gleich.
Kontinuität besteht jedoch im Trauma der Abwesenheit. Es zeigt sich unter den Umständen medialer Bilder verstärkt. Auf dieser Folie stellen sich die Fragen der Rekonstruktion sakramentaler Formen (er)neu(t).