Auf den Spuren von Arbeitsnomaden, die sich selbst nicht als homeless sondern als houseless bezeichnen, reiste die Filmregisseurin Chloé Zhao in die entlegensten Winkel der Vereinigten Staaten von Amerika. In ihrem Film Nomadland zeigt sie Bilder von Menschen unter denen sie, wo immer sie auch hinkam, Güte fand.1
Wie wäre es, wenn die Bilder, die die gottesdienstliche Praxis von Christinnen und Christen zeigen, ‚Bilder der Güte‘ wären?
Dazu müssten sie etwas zeigen, was in der ästhetischen Praxis der Bildübertragung und ihrer technischen Basis tendenziell nicht vorgesehen ist.2 Denn diese ist normiert vom Interesse an Verkauf, d.h. ästhetisch: Werbung. Sie wird gestützt von ausschließlich quantitativ bewertenden Algorithmen (Einschaltquoten bzw. Klickzahlen). Ihr Basismedium ist das Fernsehen. Daraus entwickelt und in unterschiedlicher Intensität mit ihm verbunden sind die medialen Plattformen.
Das Abbilden und Übertragen gottesdienstlicher Praxis im Fernsehen geht zurück in die frühen 1950 Jahre und fungiert – ausgesprochen oder nicht – zumindest unter dem Blickwinkel technischer Professionalität und Entwicklung als Modell.
In ihrer liturgischen Validität evangelischer- und katholischerseits nicht unumstritten, entwickelte sich das Format der Fernsehgottesdienste vor allem aus pastoralen Motiven – für Alte und Kranke. Zunächst bildeten sich Formen von Vespern und Festgottesdiensten aus besonderem Anlass und an besonderen Orten heraus. Schließlich werden bis heute Fernsehgottesdienste wöchentlich konfessionell abwechselnd in den öffentlich-rechtlichen Programmen des deutschen Fernsehens ausgestrahlt.
Zwischen einer real Gottesdienst feiernden „Übertragungsgemeinde“3 und einer dieser im Modus einer „intentionalen Anteilnahme“4 verbundenen Zuschauergemeinde bildet der Fernsehgottesdienst eine gewisse „relationale Eigenständigkeit“5 heraus. Unter den Bedingungen hygienischer Beschränkungen durch eine Pandemie spitzt sich diese Verhältnisbestimmung zu: Was bedeutet es, wenn die „Übertragungsgemeinde“ gar nicht mehr da ist, das „relational“ der Eigenständigkeit also abhandenkommt?
Anders gefragt: Wie wäre das Fernsehformat als „eine eigenständige Gottesdienstform“6 medial und liturgisch-theologisch zu bestimmen und zu gestalten? Welche Folgen hätte das für entsprechende Formate auf medialen Plattformen? Und schließlich: Was heißt das für die Unterscheidung von Teilnahme und intentionaler Anteilnahme?7
Im Folgenden wird dieses Feld von Fragen mit Hilfe von liturgisch-ästhetischen Beobachtungen umrissen und konkretisiert.
Fernsehgottesdienste sind per se Teil „einer medialen Inszenierung“8. Das heißt, sie sind Teil einer Programmfolge9 im Fernsehen, innerhalb derer sie vor allem ästhetisch immer zugleich eine unter vielen Fernsehformaten sind. In einem gewissen Rahmen können sie sich ästhetisch aber auch unterscheiden. Diese Unterscheidung findet ihre Konkretion zuerst in der Gestaltung des Ortes, an dem der Fernsehgottesdienst stattfindet, und seiner fernsehtechnischen Ausstattung.
Nachgerade klassisch finden Fernsehgottesdienste in Kirchen statt. Damit ist der Ort unmissverständlich definiert. Fernsehtechnik und ihre ästhetische Praxis ordnet sich dann einer Architektur und häufig einer künstlerisch höchst anspruchsvollen und geschichtsträchtigen Gestaltung, wie der eines Altares beispielweise, unter und bringt sie zur Geltung. Das bedeutet meistens, dass die ausgewählten Kirchen mit hohem lichttechnischen Aufwand festlich ausgeleuchtet werden. Darin besteht ein hoher ästhetischer und auch spiritueller Reiz. Denn auf diese Weise können Details sichtbar und optisch in liturgische und auch homiletische Zusammenhänge gebracht werden, die sonst nicht beleuchtet oder nur schwer zu erkennen sind.
Dieses Konzept zeigt die entsprechenden Kirchen oft als Juwelen und markiert in ihrer häufigen Wiederholung und technischen Raffinesse eine ästhetische Grenze zur gängigen Ausstattung inklusive Beleuchtung und Präsentation in großen Kaufhäusern. Denn diese wiederum haben in ihrer Funktion als Konsumtempel sich reichlich an der Ästhetik von sakralen Räumen bis hin zu Showorgeln bedient.
Die Gefährdungen fließender Übergänge von sakraler Ästhetik in die konsumistische ästhetische Praxis des Marketing10 wird besonders deutlich, wenn man sich Fernsehgottesdienste ansieht, die als „Großgottesdienste“ etwa bei Kirchentagen und anderen kirchlichen Großereignissen stattfinden.
Diese Gottesdienste beugen sich ästhetisch bereitwillig veranstaltungstechnischen Vorgaben und Notwendigkeiten. Das heißt sie finden auf Bühnen statt, die für Großveranstaltungen konzipiert sind. Das können klassische Konzerte, häufiger Rock- oder Popkonzerte oder auch Produktpräsentationen von großen Firmen sein. Sie dienen also der Präsentation von Stars.
Klassische Orchesterkonzerte versuchen diese Gegebenheiten ihrem Publikum entsprechend möglichst seriös einzuhegen. Rock- und Popstars steigern die gegebenen technischen Möglichkeiten häufig. Firmen präsentieren ihre Produkte gern in leicht sakral angehauchter Atmosphäre, seriös, geheimnisvoll aber nicht zu pompös. Sie haben das besonderes Bedürfnis, sich mit ihren eigenen Zeichen des Marktes zu dekorieren, also Firmenlogo, saisonaler Werbeslogan, Markennamen u.a. Man kann das ästhetisch gut bei (z.B.) Autofirmen und ihren Präsentationen studieren.
Für Fernsehgottesdienste bedeutet das, dass ihr angestammter architektonisch-historischer Zusammenhang verloren geht und um ihrer marktlichen Erkennbarkeit willen in mehr oder weniger geglücktes Design verwandelt wird. Als Hintergrund der Veranstaltung wird das Altarbild durch ein Logo ersetzt, ein Meditationsbild, Kreuz u.a. durch Deko, Licht und Musik durch Atmo.
Auch das Verhalten der Beteiligten auf der Bühne, ihre performance, wird automatisch vom Sog des Mediums erfasst. Liturgische Kleidungsstücke oder deren Teile werden durch merchandising Artikel ersetzt, wie die Stola durch den Kirchentagsschal. Wenn Kleidung und auch Auftrittsmuster nicht direkt sozialer Repräsentation dienen, so machen sie doch beispielsweise eine Moderatorin oder Sängerin tendenziell zu girls, den zurückhaltend dirigierenden Herrn zum ältlichen bandleader oder frontman, das Spiel der Band zum gig. Hinzu kommt die Tendenz von Moderation alles, was man sieht, auch noch einmal zu erklären oder zu kommentieren. Und alles immer frontal von oben nach unten.11
Die In diesem Zusammenhang liturgisch oder homiletisch agierenden Personen wirken oft leicht dressiert von A nach B geschoben. Das ist nicht nur fehlender oder geringer Erfahrung geschuldet, sondern auch schon im gewohnten, also realen gottesdienstlichen setting unklar unterschiedenen Sprechakten. Sie werden hier überdeutlich auf dem Bildschirm sichtbar und zeigen: begrüßen ist eben nicht moderieren ist nicht lesen ist nicht beten ist nicht predigen ist nicht aus dem alltäglichen Leben erzählen …12
Weitere, kraftvolle und ästhetisch formgebende Gestaltungsmittel des Fernsehens – sie markieren natürlich auch Aufzeichnungen in Kirchenräumen – sind Regie und Kameraführung.13 Das meint zunächst die Auswahl und Abfolge der Bilder bzw. Bildausschnitte. Hinzukommen aber die ästhetisch formprägenden Kameraeinstellungen und Bewegungen. Die unterliegen den Vorgaben des Mediums, die zumindest in ihrem zeitlichen Rhythmus von Einschaltquoten definiert sind.
Das heißt konkret (und man kann das nachzählen), dass je nach statistischer Erhebungslage, sagen wir nach 10 Sekunden, die Zuschauer/innen umschalten. So muss alle 10 Sekunden eine wie auch immer geartete Kamerabewegung stattfinden, so dass die Zuschauer/in, den Eindruck hat: Oh, da passiert was, ich bleibe dabei. Das führt zu unablässigen Kameraaktivitäten, die ästhetisch völlig sinnfrei der Vorgabe entsprechen. Da „fährt“ die Kamera schwindelerregend „in der Gegend“ herum, zoomt (…).
Das kann zu Kuriositäten dramaturgischer Art führen, so dass zum Beispiel eine Lesung beginnt, während die Kamera noch auf den Goldengel zufährt und dann „zu spät“ auf die lesende Person schwenkt. Oder die begonnene Kamerafahrt bricht abrupt ab, um dramaturgisch „pünktlich“ am Ort des Geschehens zu sein.
Als brave Fernsehkonsument/innen ist man derart an diese, das Medium Fernsehen bestimmende ständige Kamerabewegungen gewöhnt, dass man sie nicht bemerkt und/ oder sie für normal hält. Das sind sie aber nur, wenn man Fernsehen mit Werbefernsehen gleichsetzt. Das muss man allerdings wollen. Wie man leicht bemerken kann, wenn man diesbezüglich die Praxis unterschiedlicher Sendeanstalten vergleicht, gibt es zumindest mehrere Möglichkeiten. Zu großen Teilen ist es die Kameraführung, die die bildliche Homogenität des Fernsehens herstellt.
Wie kann man diesem Sog zur Homogenität, die dem Fernsehen und seinen medialen Nachfolgern eigen ist, entkommen? Als technischer Basis kann man ihr nicht entkommen, unprofessionell zu arbeiten wirkt peinlich und ist technisch schlicht nicht kompatibel. Aber man kann Technik ästhetisch unterschiedlich einsetzen und muss die Marketinglastigkeit des Fernsehens in seinen Formen und Figuren nicht einfach übernehmen bzw. nachmachen.
Diese imitatio bedeutet für die kirchliche Praxis, dass sie sich mimikryhaft opportunistisch zu einer ästhetischen Praxis verhält, deren Techniken unter dem Aspekt kommerzieller Zielsetzungen entwickelt bzw. perfektioniert wurden und deren Realisierung sie für einzig professionell hält.
Angesichts des medienimmanenten Homogenitätsdrucks gehört dazu Mut. Es bedeutet, anders zu sein, Charakter zu zeigen und, konkreter gesagt, sprachlich, sprechend und visuell Unterschiede zu markieren.
Warum wird ein Kreuz für die fernsehübertragenen Kirchentagsgottesdienste nicht von einer Künstlerin gestaltet, die sich in Material und Form von Glattheit und Hochglanz der Fernsehästhetik unterscheidet, die z.B. mit recycelten Materialien arbeitet, oder von streetart beeinflusst ist?
Eine Bühne lässt ich auch anders gestalten als unter den immer gleichen Showgesichtspunkten der Veranstaltungstechnik. Auf Theaterbühnen kann man sehen, wie unterschiedlich sie gestaltet werden können. Beide Beispiele bedeuten jedoch nicht, dass eine „Gottesdienstbühne“ wie eine Theaterbühne aussehen soll oder wie eine Galerie.
In „alten“ Kirchen wirkten verschiedene künstlerische Disziplinen zusammen. Sie bergen einen Fundus an Gestaltungstechniken, die man weiterentwickeln kann.14 Im Unterschied zu einem Bau bietet eine Fernsehbühne außerdem den Vorteil, provisorisch zu sein. Es könnte also auch etwas ausprobiert werden, was man bei der nächsten Gelegenheit nicht wiederholt, obwohl es gut war und funktioniert hat. Erkennbarkeit und Wiedererkennbarkeit müssen nicht vom Marketing diktiert werden.15
Nicht zuletzt durch die an Zahl zunehmenden medialen Übertragungen von gottesdienstlichen Formen sind Fragen nach dem Auftritt und seinem gestalterischen Umfeld in den Vordergrund gerückt. An Gestaltung und Auftritt zu arbeiten, ist nicht nur bei Lesungen Teil einer spirituellen Praxis. Es lohnt sich, daran zu arbeiten, auch wenn man sich selbst nicht als telegen empfindet und nur begrenzte technische Möglichkeiten zur Verfügung hat. Beschränkte Mittel stellen sich oft als unerwartete Helferinnen heraus.
Die Suche nach Bildern der Güte könnte als Orientierung dienen, der Schwerkraft Homogenität, wie sie das Fernsehen und seine medialen Nachfolger fest im Griff hat, zu entkommen. Bilder der Güte entstehen nämlich nur in Zwischenräumen, wenn etwas passiert zwischen Menschen, nämlich Güte.