Nach dem Umweg über das Abendmahl und damit über die Gemeinschaft, zurück auf die Beichte zu kommen, heißt zunächst, wieder den Einzelnen in den Blick zu nehmen: Das Ich. Dies ist von der Taufe her als ein angesprochenes und antwortendes zu verstehen. Die Beichte wird hier sehr persönlich und praktisch ein Prozess des Zuhörens und Unterscheidens.
Der entscheidende Begriff ist das Öffnen. Er ermöglicht zwei Bedeutungsebenen. Der Horizont einer Beichte ist die Gottesbeziehung. Zunächst – und darauf wird die Beichte meist beschränkt – meint dies die Beziehung einer/s Einzelnen zu Gott. Aber: „Warum soll man ihn Gott nennen? Warum haben die Religionen dieses Wort ‚Gott‘ verwendet? Warum kann man sogar außerhalb der Religionen gar nicht so einfach darauf verzichten, Gott auf die eine oder andere Weise zu benennen? Weil sich dies, weil sich diese Dimension der Öffnung und des Übersteigens nicht einfach mit […] abstrakten Namen benennen lässt. Es genügt nicht, sie Liebe, Freude, Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit zu nennen. Denn man muss sich an diese Dimension wenden können, man muss sie anreden, sich auf sie beziehen können. Und warum soll man sie anreden, sich auf sie beziehen? Um ihr treu zu sein.
Was heißt denn das, so sehr man es irgend vermag, man selbst zu sein, und folglich, so sehr man es irgend vermag, Mensch zu sein? Heißt es nicht genau, diesem unendlichen Übersteigen des Menschen durch den Menschen, oder dieser Öffnung treu zu sein? Dem Himmel treu zu sein [..]. Diese Treue kann sich begreiflicher weise als die Treue zu jemandem zeigen […]. Der religiöse Name dieser Treue ist das Wort ‚Glaube‘. […] Der Glaube ist der Bezug der Treue. […]
Man kann [also] zumindest sagen: Der Name Gottes und der Name des Gottes als das, was das Himmlische wäre, birgt zumindest den Hinweis auf die Möglichkeit oder vielleicht die Notwendigkeit, treu zu sein. Es ist die Treue, die ohne irgendein Element von Wissen oder Halbwissen […] dem treu ist, was ich hier die Öffnung genannt habe. Und ohne die wären wir vielleicht nicht einmal Menschen, sondern einfach Dinge unter Dingen, innerhalb der um sich selbst geschlossenen Welt.“[1]
Mit Gottesbeziehung kann aber auch die Beziehung einer Gruppe oder Institution zu Gott gemeint sein insofern sie sich auf Gott bezieht. Mit diesem Gedanken nehmen wir Luthers Umweg, von der Taufe über das Abendmahl zur Beichte zu gelangen, ernst und konkret auf. Dann meint Öffnen so etwas wie Öffnung oder Aufschließung.
»Das, worum es geht, kann nicht anders als auf dem Wege einer gegenseitigen Aufschließung [déclosion] des Erbes der Religion und der Philosophie ins Spiel gebracht werden. Aufschließung bezeichnet die Öffnung einer Einfriedung [enclos], die Behebung [levée] einer Geschlossenheit [clôture].«[2] In seinem Projekt der Aufschließung des Christentums verfolgt der französische Philosoph Jean-Luc Nancy dieses Experiment des Denkens. Es betrifft die Denkwerkzeuge des Christentums, die sich in und mit philosophischen Begriffen der Metaphysik entwickelt haben. Aufschließung bedeutet, die Einfriedung christlichen Denkens in der Geschlossenheit metaphysischer Begrifflichkeit zu öffnen.
Damit werden zwei Bewegungen des Denkens ins Denken selbst hineingenommen. Die eine ist philosophische Metaphysikkritik. Die andere besteht darin, die Öffnungsbewegung im Christentum selbst als eine konstitutive Bewegung wahrzunehmen. Das bedeutet, die Geschichte des Christentums nicht als eine Verfallsgeschichte von einem wie immer gearteten reinen Ursprung zu lesen, sondern als Bewegungsgeschichte eines Konfliktes: „Der Konflikt zwischen einer religiösen Integrität und ihrer Auflösung durch die Anpassung an eine Welt, die zugleich von ihr heraustritt und sich von ihr löst, sie zurückweist oder verleugnet“.
Nancy meint hier nicht einen Konflikt zwischen Dogmen oder gegensätzlichen Glaubensauffassungen; auch nicht einen Konflikt zwischen Judentum und Christentum; auch nicht einen Konflikt zwischen großen Religionen. Sondern Nancy meint einen spezifischen Konflikttyp im Inneren des Christentums, „der wahrscheinlich einer zwischen einer Integrität und ihrem Zerfall, ihrer Des-Integration ist. In diesem spezifischen Konflikt ist der erste Ansatz einer innersten Eigentümlichkeit des Christentums und der Möglichkeit seines Werdens zu suchen: Wäre das Christentum nicht in und durch sich selbst eine gespaltene Integrität? Wäre es nicht eben die Bewegung seiner Distension, als seiner Ausdehnung und Zerspannung, seiner Öffnung und seiner Auflösung?“
Nancy bestimmt auf diese Weise das schöpferische Prinzip des Christentums „als Öffnung – Selbst-Öffnung und selbst als Öffnung“.[3]
Diese Öffnung ist nicht im Sinne einer zufälligen Eigenschaft zu verstehen, sondern sie ist „wesentliche Eigentümlichkeit“, „christliche Ipseität“, „Selbstbezug als un-de-finierte[s] Heraustreten aus sich“.[4] Öffnung ist „der Weg des homo viator, des wandernden Menschen, des Menschen unterwegs. Dessen Reise ist nicht nur Übergang und Vorübergehen, sie konstituiert an sich das Vorgehen und Fortschreiten der Offenbarung selbst.“[5] Anders gesagt bezieht sich das Christentum „von vornherein auf seinen Ursprung als ein Spiel, ein Intervall, eine Schlagen oder Pulsieren, ein Öffnung im Ursprung“.[6]
In den konkreten Zusammenhang der Beichte gerät diese Denkfigur angesichts des brachialen Vertrauensverlustes der Kirchen durch die Missbrauchsfälle und ihrem Umgang damit. Hier wird deutlich wie wenig sich der Aspekt des Einzelnen und der hier vorgeschlagene Aspekt der Gemeinschaft sich in Bezug auf die Beichte voneinander trennen lassen.
Es wird aber zugleich deutlich, dass sich das verlorene Vertrauen in die Kirchen nicht wiederherstellen lassen wird, wenn nicht weitere Felder kirchlicher Theorie und Praxis in den Blick genommen und geöffnet, aufgeschlossen werden. Das wird das Verhältnis der Kirchen zu ihrer eigenen Geschichte betreffen und die aus ihr resultierenden Denk- und Praxisformen bis heute.
Da ist zum einen die Kombination von Christentum und Herrschaft und die aus ihr folgende Geschichte der Ketzer, die ihre Spuren bis in konkrete Dogmen- und Bekenntnistexte eingetragen hat. Da ist die Verwicklung von Christentum und Sklaverei, die über Zwangstaufen und zugleich verweigerte kirchliche Praxis zu bis heute kaum wahrgenommenen Kirchen von Nachfahren von Sklaven geführt hat. Da ist die Kombination von Christentum und Kolonialismus während der das Christentum, selbst falls es das nicht gewollt haben sollte, als Zivilisationsideologie herhielt und gewirkt hat. Da ist die Kombination von Christentum und Wirtschaft / Umwelt wobei das Christentum rücksichtslose Extraktion und Ausbeutung zumindest lange Zeit legitimieren half.
Bei der Aufschließung der komplexen Sachverhalte der skizzierten Felder werden Denken, Forschen und Neuformulieren Praktiken des Beichtens werden müssen. Angesichts des Vertrauensverlustes wird man aber auch liturgische Formen und Zeichen entwickeln müssen, in und mit denen die Gemeinschaft und ihre Institutionen beichten lernen können.