aus: Dietrich Sagert, Lautlesen. Eine unterschätzte Praxis, Leipzig 2020:
Die hebräischen Texte, die wir Altes Testament zu nennen die Gewohnheit haben, hatten bis ins siebte Jahrhundert hinein die Besonderheit, nur als Konsonanten aufgeschrieben zu sein. So konnten nur diejenigen diese Texte lesen, die die zu den Konsonanten gehörenden und somit bedeutungsstiftenden Vokale kannten.
Zuerst lernten Kinder diese von ihren Müttern, dann von den Vätern im Lehrhaus.1
Jesus von Nazareth muss früh ins Lesen dieser Texte eingeführt worden sein. Bereits mit zwölf Jahren wurde seine Kenntnis auffällig (Lk 2.46). Und noch im Todeskampf war Jesus in der Lage, die hebräische Sprache der Bibel korrekt zu rezitieren: Eli, Eli… (Ps 22,2; Mt 27,46 parr).2 Als er zu seinem Umgang mit der Schrift, dem Gesetz, befragt wurde, antwortete er, dass er kein Jota, nicht den kleinsten Konsonanten, nicht einmal ein (hinzugefügtes) Tüpfelchen3 ändern wollte.
„Und diese Worte stehen der Bergpredigt unmittelbar voran! Sie handelt von einer neuen Lehre (Du sollst nicht töten. Du sollst deinen Bruder nicht einmal zürnen, sondern ihn lieben), also einer Lesung, die sich an Hörer richtet, auf dem Berg statt im Gemeinschaftssaal (Synagoge). Im Offenen (Delos) statt im Gemeinschaftssaal, der keiner ist, weil der (orthodox) nur Männern offensteht. Ein Durcheinander vieler Männerstimmen, die um Vokalisierung streiten. Statt dass der Gott im Abaton verehrt, geschont, belassen und gefeiert würde. Jesus als Rabbi verschärft die Schrift, hebt sie nicht auf. Er bricht das Monopol der Schriftgelehrten und setzt masoretisch-vokalische Zeichen. Für Huren, Samariter, Galiläer, Fischer – all die ‚Armen im Geiste‘, d.h. die Illiteraten“4
Der Erforscher von Aufschreibe-Systemen, Friedrich Kittler, nimmt dies als Indiz dafür, dass Jesus allen Menschen die Schrift zu lesen ermöglichen wollte. Nicht mehr nur eine eingeführte Elite sollte diese Texte lesen können und damit die Deutungsmacht über sie innehaben. Kittler pointiert und erkennt darin den eigentlichen Grund für die Hinrichtung Jesu.
„Arme Leute, die nur Aramäisch verstehen, können dank Jesus die Thora selber lesen, fast wie bei Luther. Deshalb hassen ihn die Schriftgelehrten und schlagen Jesus ans Kreuz. Seine Mörder sind nicht ‚die‘ Juden, sondern nur die Rabbiner, sofern sie um Gegensatz zu Jesus das Frauenwissen ausschließen (Lk 3, 27-29). Auf mediengeschichtlichen Taubenfüßen kommen die wahren Revolutionen. Niemand, auch nicht Nietzsche, hat das Christentum so technisch schlicht begriffen. Warum? Wir stecken über beide Ohren drin.“5
Von hier aus gesehen liest sich so manche Szene im Neuen Testament verblüffend neu. Wenn z.B. Jesus zu den Schriftgelehrten sagt: „Weh euch Gesetzeslehrern! Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis weggenommen; Ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr abgehalten“ (Lk11,52) und wenn „der Schlüssel zur Tora die Vokale sind, bekommt diese Scheltrede einen ganz konkreten, medientechnischen Hintergrund“.6
Oder wenn berichtet wird, dass der auferstandene Jesus auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24, 13-31) seinen Jüngern Moses und die Propheten auslegt und ihnen plötzlich aufgeht, wie die Schrift zu verstehen sei, so kommentiert Kittler fragend: „durch Eintragen der Vokale?“
Oder etwas später, auch nach der Kreuzigung, als die Jünger „meinten, den Geist zu schauen“ (Lk 24,37), dies kein „spukhaftes Phantom“ meint, „sondern die Stimme des Herrn, die sie nun erst in den aufgeschriebenen Stimmlauten alias Vokalen anschauen und als seine Botschaft erkennen, das heißt lesen können“.7
Und Lesen heißt in diesem Zusammenhang selbst verständlich laut lesen. Lautlesen als Praxis der Auferstehung.
Hinter diese Praxis zurückgefallen ist spätestens Ambrosius von Mailand im Jahre 384 und Augustinus hat ihn dabei ertappt (Conf. 6,3).8