Während der Vorbereitungen zu seinem Filmprojekt Il Vangelo secondo Matteo (1964) entschloss sich der italienische Filmregisseur Pier Paolo Pasolini, den Worten des Matthäusevangeliums streng zu folgen. Auf der Suche nach Drehorten kommt Pasolini schließlich davon ab, in Palästina zu drehen. Dort seien kaum Einstellungen möglich, ohne einen Telefonmast oder eine Autostraße im Bild zu haben.
Wie schon in seinen vorigen Filmen, Accattone (1961), Mamma Roma und La Ricotta (1962/63), suchte Pasolini nach einer „Authentizität, Armut und Würde archaisch gebliebener Menschen und Lebensformen, denen die historische Wahrheit gestisch eingeprägt, ja: eingeschrieben steht. Das Authentische erweist sich als Funktion von Darstellbarkeit, nicht als Moment historischer ‚Eigentlichkeit‘“1. Schließlich dreht Pasolini im armen Süden Italiens.
Auch in der Besetzung von Pasolinis Matthäusevangelium kann man diese Suche deutlich sehen. Er besetzt fast ausnahmslos Laien, zum Teil buchstäblich Leute von der Straße, arme Teufel, poveri cristi, arme Christs, wie man sie im Italienischen nennt.2
Und Pasolini feiert seine Spieler. Er stellt sie uns vor, lässt uns in ihre Gesichter blicken, wie in Porträts von Giotto oder Piero della Francesca. Die Soldaten, die Herodes mit dem Befehl zum Kindermord übers Land schickt. Dann später die Jünger, die Jesus bei der Arbeit sieht und zu sich ruft. Und all die Einzelnen natürlich auch: Maria, Joseph, Jesus selbst, die Engelin…
Pasolinis Interesse am Christentum ist gekennzeichnet von diesem suchenden Blick auf die einfachen, armen Menschen im Matthäusevangelium. Derartige Menschen sind im kommerziell ausgeleuchteten Film und Fernsehen nicht präsentierbar. Sie kommen folglich auch in den kirchlichen Formaten dieser Medien und ihrer Hybridformen nicht vor.
Deren gängige ästhetisch-religiöse Praxis ist das Gegenteil dessen, wovon in den Evangelien die Rede ist. Denn dort geht es genau um die, die kein Hochglanzlächeln tragen, die nicht frei oder nur andere Sprachen sprechen können, die in Hinsicht auf Kleidung oder anderes einem biederen Konsumstandard nicht entsprechen.
Damit eine Anwesenheit dieser Menschen nicht automatisch zu einer Denunziation bzw. einem Lächerlichmachen auf offener Bühne gerät – sie würden als namenlose Statisten lediglich benutzt –, müssten andere ästhetische Formen erfunden werden, geleitet von einer Barmherzigkeit des Blicks. Pasolini hat seine Heldinnen und Helden aus dem sogenannten Lumpenproletariat mit einer provokanten, kraftvollen Würde gefilmt, die sie schön werden ließ.
Durch ihre Blicke, Gesten, Gesichter und Körper scheint eine potentielle Kraft hindurch, die man revolutionär nennen kann. Sie hat ihre Wurzel im erduldeten Elend.
Pasolinis Blick auf die Menschen verdankt sich keiner moralischen Tugend. In seinem Evangelium stimmt er kein „Lob der Armut“ an. Vielmehr zeigt sich in seiner Suche nach Menschen ein „Nachleben evangelischer Werte“, oder vielleicht präziser ausgedrückt: ein Nachleben der „großen franziskanischen Paradigmen“ christlicher Überlieferung.3
Der französische Philosoph Philippe Lacoue-Labarthe gebraucht für diese Praxis Pasolinis das Wort „Heiligkeit“4. Und er meint damit die „Erfahrung der Verworfenheit“5. Diese Bedeutung von Heiligkeit müsse man dem Christentum entreißen, wenn sie in ihm denn noch latent vorhanden wäre. In der Moderne hätte eine solche Heiligkeit vielleicht gelegentlich ihr Asyl im künstlerischen Akt gefunden.6
Im Laufe seines Lebens hat Pasolini diese emphatische Suche nach lebendigen Menschen immer tiefer enttäuscht gesehen. Wie er die von ihm geliebten Glühwürmchen durch die zunehmende Umweltverschmutzung verschwinden sah, entschwand auch der Mensch in der überbelichteten Leere des Konsumkapitalismus. Zurück blieben die Bediensteten des televisuellen Warenglitzers und verelendete Massen.7
„Die Tragödie besteht darin, dass es keine Menschen mehr gibt; man sieht nur noch seltsame Maschinen, die aneinanderstoßen.“8
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der im Matthäusevangelium einen der zwölf Jünger Jesu gespielt hatte, folgt Pasolini darin, wenn er feststellt, dass „eine der wenigen Gewissheiten“, über die der zeitgenössische Mensch „bezüglich seiner selbst verfügt“, das Unvermögen ist, „Erfahrungen zu machen und mitzuteilen“.9
Georges Didi-Huberman, ein intensiver Leser von beiden, misstraut dem apokalyptischen Horizont Pasolinis und Agambens vom Verschwinden des Menschen. Jahre nach Pasolinis Tod hatte er während eines Aufenthaltes in Rom wieder Glühwürmchen gefunden. Allerdings in einem anderen Teil der Stadt als da, wo Pasolini sie seinerzeit verschwunden glaubte. Und er erkannte:
Sie verschwinden nicht, sie ziehen nur weiter, wandern aus, wenn es zu hell wird.
So sei es auch mit den Menschen. Man dürfe der blendenden Schau von ihnen nicht trauen. Man müsse andere Arten von Blicken und Bildern erfinden, fragilere, gekennzeichnet von einem „unaufhörlichen Wechsel von Erscheinen und Verschwinden, Wiedererscheinen und Wiederverschwinden“10, Bilder, die einen Schimmer des einen für die andere erahnen lassen und Neigung erzeugen können.11