Denkt man über das Offene und das stets zu Kommende nach, kommt man im deutschen Sprachraum an zwei Polen oder auch Überschreitungen nicht vorbei. Die eine findet sich markiert in der dritten Strophe der Elegie „Brod und Wein“ von Friedrich Hölderlin: „So komm! dass wir das Offene schauen, / […] / Dorther kommt und zurück deutet der kommende Gott“. Die andere findet sich in dem Gedicht „Todtnauberg“ von Paul Celan: „die in dies Buch / geschriebene Zeile von / einer Hoffnung, heute, / auf eines Denkenden / kommendes / Wort / im Herzen“.
Vor dem Hintergrund dieses hier nur hingeworfen skizzierten Aufrisses1, denkt Jean-Luc Nancy das Kommen (venue, venant) als „den Zustand von etwas, das dabei ist, zu kommen“2. Nancy entwickelt das Denken des Kommenden im Austausch mit seinem Kollegen und Freund, Philippe Lacoue-Labarthe, über Theater, genauer gesagt über die Theorie der Tragödie von Aristoteles.
Darum ringend, wie etwas erscheint oder vergegenwärtigt werden könne, unterscheidet Lacoue-Labarthe zwischen einer Vergegenwärtigung (présentation) und einem nicht Vergegenwärtigbaren (imprésentable). Dabei nimmt er folgendes Beispiel:
„Sehen wir das Bild des gekreuzigten Christus. Das ist gegenwärtig (présent). Nichts verweist auf etwas, was sich nicht vergegenwärtigen ließe (imprésentable), aber man kann auch eines nicht verwechseln, und darum ist es ein so gutes Beispiel: die Szene oder das Buch (die Erzählung), die bemalte Leinwand oder er ‚behauene Stein‘ realisieren nicht (irréalisent) das, was sie vergegenwärtigen, d.h. sie ziehen von der Gegenwart (présence) das ab, was sie vergegenwärtigen (faire présentation). Und wieder kommt man auf den paradoxalen Begriff der Vergegenwärtigung (présentation), der nichts annimmt, was sich nicht vergegenwärtigen ließe (imprésentable). (Außer, wie ich befürchte, in der christlichen Theologie, die die ‚Verendlichung‘ (finitisation) Gottes als un-endlich (in-fini) denkt, wie ein forcierter Wunsch, das zu vergegenwärtigen, was nicht zu vergegenwärtigen (présentation de l’imprésentable) ist.)“3
Nancy erscheint das zu kompliziert. Er will überhaupt keine Vergegenwärtigung (présentation) von irgendetwas. Er zieht es vor, ein „in eine Gegenwart Kommen“ (venue en présence) zu denken, einen „permanenten Zustand des Beginns“ (inchoatif permanent), „etwas, das von sich aus stets wiederbeginnt“ (initialité répétée).4
Um diesen Gedanken auf das Bild des Gekreuzigten anzuwenden, auf das Nancy in seinem Austausch mit Lacoue-Labarthe nicht zurückkommt, müsste man ein solches jeweils als eine Zeichnung betrachten, welchen künstlerischen Ausdruck es auch immer annimmt. Denn das, „was die Zeichnung in der Kunst oder die Kunst der Zeichnung ausmacht“, ist „das Denken der nicht konformen noch verifizierbaren Form, das Denken der Form als sich formend, als selbstformende Form“.5 Eine Zeichnung entspricht der „Geste einer Offenlegung (mise en évidence)“. Und diese Praxis kommt von alters her:
„Der Erste, dessen Hand, einen Hirsch oder eine Wellenlinie auf eine Felswand zeichnete, begann die endlos modulierte Weiderholung seiner Geste, die grenzenlose Variation seines Themas. Diese Wiederholung, deren Öffnung und seltsame Notwendigkeit in der Zeichnung enthalten sind, nährt eine Lust, deren Wesen die Wiederholung selbst ist. Davon ausgehend ist es möglich zu verstehen, dass Kunst in all ihren Formen immer mit Lust in Verbindung steht.“6
Diese Lust ist nicht abschließend, „weil sie eine Lust des Anfangs, der Öffnung ist. Die Lust eines Begehrens also, das weniger auf ein zu erlangendes Objekt, auf ihren Schwung, auf ihre eigentliche Möglichkeit – wenngleich sich diese eben gerade nicht in Begriffen des Darstellbaren, [wir müssten hinzufügen: des Vergegenwärtigbaren], Berechenbaren, Durchführbaren bietet, – sondern sich als unbestimmte Möglichkeit des Möglichen als solchem erweist, als ein Sein-Können“7.
Nancy denkt hier die Zeichnung als „kontinuierliche Öffnung“8 und damit konkret als das „Abenteuer einer Linie, sich ihres eigenen Kommens (venue) auszusetzen“9.
Man könnte Nancys Kommen als ein „beständiges Verschwinden“10 verstehen. Das würde bedeuten, sich in einem „Zustand der Nostalgie nach etwas, was wir auf immer verloren hätten und das vielleicht niemals da war“11, zu befinden.
Oder aber, man erkennt im Kommen die Züge einer „beständige[n] Geburt“12. Das würde bedeuten danach zu verlangen, „ein absolut-Kommendes hervorbrechen zu lassen, dem keine Art von Präsenz hätte vorausgehen können“13.