Auf die Taufe müsste konsequenterweise der Teil über die Beichte folgen, aber Luther geht wieder einen Umweg über das Abendmahl. In der antiphonischen Komposition des Kleinen Katechismus wird es nun explizit mehrstimmig, polyphon. Aus wechselnden Ich und Du wird über das Für-Dich nun ein Wir. Und dieses Wir ist körperlich gemeint: hoc est corpus meum. Es schafft eine Körperbildung, die anders geartet ist als jede Gemeinschaft, die auf Interessen, Mitgliedschaft oder Abstammung beruht. Sie ist werklos, absichtslos und ohne Zweck, sola gratia, also nicht auf ein Werk ausgerichtet, auch nicht auf ein Eigentum.
Das zu denken ist eine Herausforderung. Paulus hat dafür das Denkbild des corpus Christi erfunden. Es steht allerdings unter historisch-institutioneller Besatzung. Den Unterschied dazu macht der musikalische Horizont eines mehrstimmig singenden Chores deutlich.
Dietrich Bonhoeffer hat in „Widerstand und Ergebung“ auf Begriffe wie Polyphonie, Kontrapunkt und cantus firmus als christologische Denkfiguren aufmerksam gemacht. Der Gründer und künstlerische Leiter des belgischen Gesangs-Ensembles Graindelavoix, Björn Schmelzer, hat vorgeschlagen, die polyphone musikalische Praxis von Komponisten wie Ockeghem und Dufay mit der Philosophie eines Nikolaus von Kues in Resonanz zu denken.[1] Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy hat diese spezielle Form des Wir mit der Figur „singulär plural sein“ beschrieben.
Être singulier pluriel sind drei hintereinander aufgereihte Worte. Zwischen ihnen besteht keine „bestimmte Syntax“. „Être ist Verb oder Hauptwort, singulier und pluriel sind Hauptworte oder Adjektive“. Alle lassen sich in der französischen Sprache kombinieren. Dennoch sind sie von einer absoluten Gleichwertigkeit bestimmt. Ihre derart offene „Artikulation“ lässt sich „unmöglich wieder zu einer Identität verschließen“. Diese offene Wortreihung findet eine entsprechende Übersetzung in die deutsche Sprache am ehesten in: „singulär plural sein“.[2]
Diese offene Artikulation denkt das Sein als „Singular und Plural (bzw. […] singulär und plural) zugleich, ununterschiedener- und unterschiedenermaßen“. Es denkt das Sein „auf singuläre Weise plural und auf plurale Weise singulär“. Damit ist keine „Prädikation des Seins“ gemeint, „als wäre es oder als habe es eine bestimmte Zahl an Attributen, und darunter jenes doppelte, kontradiktorische oder chiastische Attribut eines singulär-pluralen Seins“. Nein, es bildet „die Wesensverfasstheit des Seins“.[3]
„Singulär plural Sein heißt: Das Wesen des Seins ist, und ist nur, als Mit-Wesen (co-essence). Aber ein Mit-Wesen oder Mit-sein – das Sein-mit-mehreren – bezeichnet seinerseits das Wesen des Mit-, oder auch, oder vielmehr, das Mit- (das cum,) selbst in der Position oder Art des Wesens. Eine Mit-Wesentlichkeit kann in der Tat nicht in einer Ansammlung von Wesenheiten bestehen, in der das Wesen der Ansammlung noch zu bestimmen bliebe: Auf sie bezogen würde die versammelten Wesenheiten zu Akzidenzien. Mit-Wesentlichkeit bedeutet wesentliche Teilung der Wesentlichkeit, Teilung als Ansammlung, wenn man so will. Dies könnte man auch auf diese Weise ausdrücken: Wenn das Sein Mit-sein ist, dann ist im Mit-sein das ‚Mit‘ das, was das Sein ausmacht, es wird diesem nicht hinzugefügt.“[4]
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Wir wollen aus einem auf den ersten Blick befremdlichen Zusammenhang darauf zurückkommen und damit zugleich die für christliches Denken dominierende Trennung zwischen Natur und Kultur[5] hinter uns lassen. Diese Perspektive eröffnet nicht nur bislang unbearbeitete öko-theologische Felder, sie ist umso befremdlicher, als ihr Anknüpfungspunkt kontrapunktisch zur Tierkonnotation des Abendmahles, zum Lamm, steht.
„Plötzlich durchdringt es die Nacht. Ein perfektes Wolfsheulen, gleich neben uns. Wir bleiben stehen wie vom Blitz getroffen, jeder reißt die Mütze des anderen runter, wir halten uns an den Schultern fest. Eine große Stille folgt, so wie beim Warten auf das Responsorium der Messe. Also antworte ich. Ich heule, wie ich es gelernt habe, um dem Gehabe, dem Gerüst, dem besonderen Ablauf ihrer Sprache zu entsprechen. Ich ahme nach so gut es geht, wie ein mittelalterlicher Reisender auf dem Weg ins Morgenland, der einen diplomatischen Begrüßungssatz in der Sprache des mythischen Volks der Kynokephalen (jener Tier-Menschen mit Hundekopf, die in den weiten Steppen nördlich des Baikalsees leben sollen, wie Marco Polo in seinem Buch der Wunder erzählt) auswendig auszusprechen gelernt hätte. Aber ohne ein einziges Wort zu verstehen.
Neuerlich eine Stille, wie die verliebte Erwartung einer Antwort auf eine Aufmerksamkeit. Und er singt. Ein großartiger, sehr monotoner, fast zu perfekter Schrei. Also antworte ich, man muss ja höflich bleiben, aber wie soll man dieser Farce beenden? Er singt neuerlich, höher dieses Mal, mit Sorgfalt moduliert, ganz nahe, gleich hinter dem Kamm, dreißig Meter von uns entfernt. Dann antwortet ein zweiter Wolf, weiter im Süden: ein stärkeres, gefestigteres Heulen, das auch tiefer ist. Darauf antworten wir, der versteckte Wolf und ich gemeinsam. Ein dritter Wolf antwortet im Südosten, aber nicht sehr weit weg, höchstens ein paar Hundert Meter entfernt. Der Dialog setzt sich noch weiter fort, er antwortet immer gerne.
Ich bedeute mit dem Finger auf dem Mund zu schweigen, wir werden noch seine Neugier wecken. Oft kommen die Wölfe nachschauen, wer geheult hat, auch wenn sie wissen oder spüren, dass es kein Artgenosse ist. In der Stille, die Hände an den Schultern des anderen, warten wir, suchen mit eifrigen Augen den Kamm ab, wo er auftauchen muss. Er heult von Neuem, als Gesuch, und ich beiße mir auf die Lippen, um nicht zu antworten. Die Erwartung ist groß, der Bergkamm zittert, nur eine Fichte bewohnt ihn, und niemand zeichnet sich auf ihm ab. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich einen Wolf sah. Es war ein schwarzer Wolf auf einem Bergkamm, sein Profil in der blauen Luft hat ihn verraten, während seine Farbe ihm in der Dämmerung mit den Salbeibüschen des Lamar Valley in Montana verschmelzen ließ. Aber hier sind wir zwei Autostunden von Lyon entfernt, auf der Hochebene des Vercors, eines vertrauten Gebirges, wo man keine mythologischen Begegnungen erwartet.
Wir laufen zur Hütte zurück, die anderen Reisenden sind an die Schwelle getreten. Sie haben es gehört. Ich rufe in den Wind, lange, moduliert, fast sehnsüchtig. Und da, hundert Meter von uns entfernt, antwortet in der Nacht eine Polyphonie: gemeinsam heulen alle jungen Wölfe des Jahrgangs, der ganze Wurf, der am Ende des Frühlings geboren wurde. Ihr Gesang rollt erregt, ängstlich, schrill, fröhlich, unbeherrscht, ohne die perfekte Effizienz des Gesangs der Erwachsenen, mit Kläffen, Trillern, Wuffen – und zahlreich. Die Fortpflanzung ist bestätigt (und zugleich lächeln wir über die Unverhältnismäßigkeit: In Wirklichkeit ist die wissenschaftliche Dimension dieser Art nicht der letzte Zweck, sie dienst uns als Gerüst fr Begegnungen einer anderen Art, einer anderen Größe).
Ich antworte noch einmal, wir sind alle still wie bei der Jagd oder in einem Tempel, und das Rudel antwortet noch einmal. Dieses Mal mit den Jungen und ein paar Erwachsenen, es ist unmöglich, sie zu zählen. Dann heulen wir alle im Chor. Keine Antwort. Man hört neuerlich, ein paar Mal, das entfernte Heulen eines Erwachsenen, der wahrscheinlich die Gruppe sucht, aber diese bleibt nunmehr still. Der Wind dreht und macht es schwierig, die Herkunft der fernen Gesänge festzustellen, die manchmal noch zu uns kommen. Die Wolfsgruppe vor uns antwortet nicht mehr. Die Menschen befinden sich in einer stillen Begeisterung: Das Geheul hat jeden sanft außer sich gebracht, in eine alte Entzückung, die aus Verwirrung und Dankbarkeit besteht. Die Bergexperten, die sich vorher noch beim Herd über die Form der Schneeflocken oder die Vorzüge ihrer Skier ausließen, stammeln wie Kinder, und aufgrund einer sonderbaren Alchemie, die ich noch nicht verstehe, bedanken sich die Leute, so also ob wir uns etwas gegeben hätten, und dann lachen sie, als sie merken, dass niemand unter uns der Urheber der Gabe ist. Ich vermute, dass diese Dankbarkeit, die ihre Quelle nicht findet und erfolglos ihren Empfänger sucht, ein unglückliches Erbe der Monotheismen unserer Tradition ist, die die Vorstellung der Gabe auf etwas beschränkt haben, das ein absichtsvoller Gott austeilt. Sodass wir nicht wissen, wen wir für die wahren täglichen Gaben, für das erfrischende Wasser, für die in Frucht verwandelte Sonne, die in unser Fleisch übergeht, für die Schönheit des Eisvogels und für die Schönheit des von unseren uralten Augen in Landschaft übersetzen Lichts danken sollen (man löse die Gabe aus de, Gefängnis der Idee der Absicht, und alle immanenten Danksagungen werden möglich).“[6]
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Durch die Christusworte: „Dies ist mein Leib“ und „Dies ist mein Blut“ ist das Abendmahl bis heute als ein besonders intimes Geschehen markiert. Der polnische Theaterwissenschaftler Jan Kott nennt dies „Gott – Essen“[7]. Kott fügt der Deutung des Geschehens aus der Tradition des jüdischen Passahmahles eine Interpretation aus der Tradition der griechischen Tragödie hinzu. Und doch wird der Grundton bestimmt durch eine gemeinsame Mahlzeit. Und es ist dieses Kontinuum, das es erlaubt, alltägliche Vollzüge mit liturgischen und sogar theatralischen Vollzügen in polyphonem Zusammenklang zu denken und zu erleben.
Der Grundton der alltäglichen Mahlzeit wird von Michel Serres hervorgehoben, wenn er das Abendmahl in folgende biblische Tradition stellt: „Du sollst keinen Mann, keine Frau, kein Kind mehr töten, du sollst keinem Tier mehr das Leben nehmen, ob Widder oder Stier, du sollst Brot essen und Wein trinken. Ja, die Eucharistie lässt ein unschuldiges, sanftes Zeitalter anbrechen, das dem Schlachten abgeschworen hat und sich der Flora zuwendet. Pflanzen sind autotroph, anders als die heterotrophen Tiere: Diese überleben nur auf Kosten anderer Lebewesen, jene brauchen nur die Welt, das Wasser, die Sonne, das Licht und materielle Moleküle. Sie überleben unabhängig von anderen Lebewesen. Sie töten nicht. Fleisch und Blut entstammen also den alten Opferungen, aber beide verwandeln sich in opferlose Substanzen, in Brot und Wein. Eins: Um des Friedens willen einen Menschen töten, Zwei: Ein Tier töten, um es zu essen. Und endlich: Essen, ohne zu töten.“[8]
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Neben den Verwandlungen, die sich an das Abendmahl anschließen bzw. von ihr ihren Ausgang nahmen, gilt es eine nicht aus dem Blick zu verlieren. Das kann bedeuten, sie in diesem Zusammenhang erst einmal in den Blick zu nehmen. Es handelt sich um die Verwandlung einer Gabe in eine Ware und zurück.
Selbst wenn diese Wandlung nicht im Zentrum des liturgischen Mahles steht, so findet sich doch bis in früheste eucharistische Gebete Bezüge zu ihr, nämlich zu Herkunft und Herstellung der Gaben Brot und Wein aus Korn und Trauben, Ernte und Kelterung.
Der entscheidende Begriff im Verhältnis zwischen Gabe und Ware ist die Entfremdung. „In der kapitalistischen Logik der Kommerzialisierung werden die Dinge aus ihren Lebenswelten gerissen, damit sie Tauschobjekte werden können. Diesen Prozess nenne ich ‚Entfremdung‘, und ich schreibe den Begriff gegebenenfalls Menschen wie Nichtmenschen zu.“[9]
In der Auseinandersetzung mit Studien zu dem melanesischen Tauschritual „Kula“ kommt die amerikanische Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing zu der Erkenntnis, dass der „Wert der Dinge“ aber „nicht einfach durch den Gebrauch oder den Gütertausch“ entsteht, sondern durch „soziale Beziehungen, zu denen sie gehören“.[10] Es können also relativ wertlose Dinge durch soziale Beziehungen, die durch sie geknüpft oder unterhalten werden, einen hohen Wert erhalten. Das bedeutet aber, dass „Warenökonomie“ und „Gabenökonomie“ einander nicht zwangsläufig dichotomisch gegenüberstehen.[11]
Mit diesem Befund beobachtet Tsing die immer wieder im Zentrum ihrer Untersuchungen stehenden Praktiken um den japanischen Matsutake Pilz. Dieser wächst insbesondere auf von Waldrodungen gezeichneten Gebieten in Symbiose mit einer Kiefernart. In Oregon, USA, bildeten sich in derartigen Waldgegenden mehr oder weniger lose Gruppen von Aussteigerindividuen, die es zu ihrer Aufgabe machten, diese Pilze suchen, zu ernten und auf Versteigerungen feil zu bieten. Wie Trophäen ihrer Freiheit, im Wald zu leben, versteigern diese Leute ihre Pilze und verdienen damit das Geld, was sie für ihre Existenz benötigen. Die Pilze haben als Verlängerung und Ausdruck ihrer Persönlichkeit einen hohen Wert. Die Ersteigerer wissen diesen Wert zu schätzen und kennen die Sammler und Orte, an denen sie ihre Pilze anbieten. Im Weiterverkauf an Zwischenhändler wird den Pilzen ihr wertvoller relationaler Charakter Stück für Stück entzogen. Sie werden sortiert, kategorisiert, anonymisiert, verpackt, transportiert und werden so zur Ware. In ihrem Zielland Japan angekommen, werden sie wiederum von Händlern in Augenschein genommen und für den weiteren Verkauf an Supermärkte, Spezialitätenhändler bis hin zu ausgewählten Einzelpersonen ausgewählt und dann schließlich verkauft. In diesem Prozedere werden also der Ware wieder beziehungsknüpfende Werte hinzugefügt. Sie ergeben sich aus ihrer Qualität. Schließlich spielen Matsutake-Pilze in der japanischen Kultur als beziehungsstiftende und –unterhaltende Delikatesse eine zentrale Rolle. Die Pilze erhalten also wieder den Charakter einer Gabe.
In dem hier skizzierten Prozess findet eine Verwandlung oder Übersetzung von einer Gabe in eine Ware und zurück statt. In unserer durchkommerzialisierten Welt könnte er die Aufmerksamkeit für einen Moment auf eine individuelle kleine Liturgie einer Vorbereitung der Gaben lenken, die beim Abendmahl auf den Tisch und in unsere Körper kommen.