Predigten von Peter Meyer
Sorglos.
Predigt von Dr. Peter Meyer
anlässlich seiner Verabschiedung
am 15. So. n. Trinitatis, 17. September 2023
in der Schlosskirche zu Wittenberg
zu Matthäus 6,25-34
Ach! Ja! Die Bergpredigt! Und dieser Teil daraus: Lilien, die höflich nicken. Vöglein, die der Schwerkraft eine lange Nase machen. Jesus macht auf „take it easy“.
Passt! Für diesen lässigen Septembersonntag. Der mildes Licht wirft. In dem sich die Hitze der Welt fast zur Anekdote abkühlt.
Passt! Fürs Abschiednehmen. Denn sobald ein Abschied in Sicht ist, wird nichts mehr so heiß gegessen wie gekocht. Dann schleicht sich ein milder Ton in alles.
Planen für übermorgen? Passé! Scheunen füllen für 2024? Passé! Länger schon reden wir öfter nur noch übers „hier und jetzt“. Über das, was war. Besonders gerne über das, was gut war. Wohlig-nostalgisch. Wie der Blick auf ein Foto auf Papier, das leicht gelbstichig geworden ist – und es fühlt sich an, als habe sich die Gnade weich darübergelegt. Passt!
Untergründig meldet sich bei mir auch das andere. Der Schmerz über das, was nicht weitergeht. Nicht mehr sein wird. Ein leiser Widerhall vom ganz großen in diesem kleinen Abschied. Das Gras, das drüber wächst, wird morgen in den Ofen geworfen, klar.
Aber darum begrüße ich das milde Licht umso mehr. Lilien. Vöglein. Take it easy.
Das ist eine Strategie, mit der Bergpredigt umzugehen. Und ehrlich gesagt auch: Mit Jesu Lehre. Mit dem Leben. Sich ruckzuck der Schönheit an den schlanken Hals zu werfen, herrlicher als der große König Salomo. Passt! Ein rhetorisches Feuerwerk jagt das nächste. Vom: „Selig sind!“ bis zum Haus auf Fels.
Die Sehnsucht kommt nicht erst mit den Abschieden. Die Sehnsucht danach, die Sache so zu verstehen. Es ist wie mit dieser Kirche. 2016 so makellos renoviert, dass nichts dazwischenkommt. Nichts zu riechen, von Krieg, Feuer und Verzweiflung. Von Provisorien. Vom Zahn der Zeit. Vom frommen Leben im totalitären Staat. Nur schön und sehr glatt. Samt kaiserlichen Holzvögeln [am „Kaiserstuhl“ links neben dem Altar] und bunter Blütenexplosion im Netzgewölbe über uns.
Passt! So, wie Du Dein Leben bisweilen schön, sehr glatt machst. Du magst die Nacht durchgegrübelt haben. Aber im Büro geht’s Dir topp. Take it easy!
Das Problem. Das Problem für diese Sehnsucht. Für diese Strategie. Ist bloß, Jesus aus Nazareth hineinzuzirkeln. Vielleicht hat Matthäus die Bergpredigt mit ihrer Schönheitswucht deshalb komponiert. Damit Jesus exakt reinpasst.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein warnte mal: „Exakt“ ist eine Frage des Ziels! Ungefähr kann viel exakter sein. So, wie: „Seht auf die Vögel im Himmel! Schaut auf die Lilien!“ Der alte Luther hat das etwas zu schön überkleistert. Für den Rhythmus, den Klang, den Fluss. Seht euch die Vögel genau an! Steht da. Lernt von den Lilien! Steht da.
Wenn Ihr hinseht, dann passiert es! Abenteuerlich, oder? Dass Jesus etwas will! Erwartet! Mit mildem Licht und Wörtern nicht erledigt. Mit Gnade, sorry, Doktor Luther, nicht abgegolten. Also: Seht euch die Vögel genau an! Lernt.
Direkt über der waghalsig steilen Außentreppe, die drüben im Kunsthof hinauf zu meinem Büro im Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur führt, über dem Fenster, das sich der Treppe schützend entgegenstreckt, nisten seit zwei Jahren Schwalben.
Die Wahl des Nistplatzes? Ich schüttelte den Kopf darüber. Wann immer jemand zum Büro hinauf geht, schimpfen die Schwalbeneltern, pardon, wie die Rohrspatzen.
Ein Ärgernis ist es obendrein. Als Baumeister sind diese Tiere einfach unbegabt. Ihr Baumaterial sind Matschklümpchen. An einer sauberen Baustelle liegt ihnen wenig. Und, unter uns gesagt, an einer hygienischen Nestumgebung erst recht nicht.
Interessant, das alles zu sehen: Ach ja. Aber auf ihre gefiederte Sorglosigkeit könnte ich verzichten. Konnte ich verzichten. Bis…
Ende Juni fauchte ein Unwetter durch Wittenberg. Am Morgen drauf liegt das Nest in Brocken auf den Stufen. Eine Hofnachbarin hat die nassschwarzen Vogelküken in einen Pappkarton versammelt. Sie drängen sich in eine Ecke, fiependes Elend. Seht euch die Vögel genau an! Lernt!
Ich sehe. Ich lerne in den nächsten Stunden und Tagen: Es braucht einen warmen Nestersatz. Ich lerne, was diese Küken fressen und wie viel davon und dass das ohne die Eltern kaum geht. Und wie die sich sorgen, lerne ich: Sie flattern und schreien!
Ich zucke nicht länger die Schulter über Irgendwie-Sorglosigkeit. Wir gehen selbst spätabends noch einmal in den Hof, um zu schauen, ob noch alle im provisorischen Nest sitzen. „Meine Rauchschwalben“. Bis sie endlich flügge sind!
Unter den Vögeln am Himmel werde ich ihresgleichen jetzt immer erkennen. Die eleganten Körper. Rahmweiß die Unterseite. Schwarzblau das Gefieder. Kastanienbraun die Kehle. Sie säen nicht, sie ernten nicht.
Ich habe gesehen! Und gelernt: Ihre schöne Sorglosigkeit ist eine schutzlose Schönheit. Dass auch nur eins von ihnen den Tag überlebt und eines Tages fliegt: Das ist ein Wunder.
Ich habe gesehen! Und die Sache mit der Sorge hat einen neuen Klang.
Es ist ja die Tragik unserer Zeit! „Sorgt Euch nicht“, hat Jesus gesagt. Und manche konnten auf die Idee kommen: Jesus meint das große Schulterzucken, das lange über der Welt lag, vermutlich noch liegt.
Aber jetzt sieht jedes Kind, sehen viele Kinder zuerst: Ihr habt Euch rundum um Euren Leib und um Euer Leben gesorgt! Ihr habt ausgerechnet das waghalsig gefunden, zu traumtänzerisch: Den Vöglein und den Mücken ihr Recht zuzugestehen. Habt gedacht: Wer in der Gegenwart Beton kauft, wird in Zukunft sicher wohnen.
Die Tragik unserer Kirche! „Sorgt Euch nicht“, hat Jesus gesagt. Ich höre, wie es so oder so ähnlich nicht bloß von den Kanzeln gesagt wird. Oft unter Aufbietung aller Kraft.
Aber in Wirklichkeit sehen es gerade die, die nur mal so durch die Tür schielen: Wir sorgen uns, was das Zeug hält. Um die Zukunft der Kirche. Ums Übermorgen „meiner“ Gemeinde. Ein bisschen auch um uns selbst. Mit all den Programmen. Mit ganz viel Aktion. Mit ängstlichen Kirchen-Bürokratien, oh ja!, und Amts-Hierarchien. Denn so lange die stehen, schaltet das Evangelium schon keiner ab. Oder?
„Sorgt Euch nicht“ hat Jesus nie gesagt. „Sorgt euch nicht um euer Leben,“ das hat er gesagt, „was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet.“ Euer Leben. Euren Leib.
„Macht Euch keine Gedanken um morgen“, hat Jesus nie gesagt. „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes“ hat er gesagt, „und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen.“
Unsere Sorglosigkeit ist eine schutzlose Schönheit.
So wie Heiligabend 2020 nebenan auf dem Schlosshof. Die Winterwelle der Pandemie wuchs unerbittlich. Und der Streit über den verantwortungsvollen Umgang damit auch, buchstäblich bis zum 24. Dezember. Ich ging mit mehr als gemischten Gefühlen zum ersten Mal in meinem Leben durch eine Einlasskontrolle zum Weihnachtsgottesdienst-Dienst. Aber dann breitete sich etwas aus. Im Licht der Straßenlaternen. Wie wir da alle verteilt standen und stumm. Etwas von der provisorischen Nähe des himmlischen Kinds. Ohne Lebensversicherung in der Welt. Breitete sich etwas aus von der Botschaft dieser Nacht, als erlebte ich es zum ersten Mal: Wo alles fällt und nichts mehr hält, bin ich da, ich bin nah. Immanuel.
Solange ich mich erinnere, werde ich mich an diese Corona-Weihnacht erinnern!
Sorglos schutzlose Schönheit!
Im Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur haben wir ein Leib- und Magenformat, eine Hausmarke für die Fortbildung. Sie heißt, als hätten wir die Bergpredigt nicht gelesen: „Cura“. Also: Sorge. Fürsorge. Dafür, wie andere predigen und feiern. Wenn solche Fortbildungs-Sorge gelingt: toll!
Aber dann: Ein Cura-Seminar mit werdenden Lektorinnen und Lektoren, ehrenamtlich. In einer „entkirchlichten Region“, wie man so sagt. Bei der Vorstellungsrunde erzählt die eine davon, dass sie mitmacht, weil: In ihrer Dorfkirche soll wieder Leben sein. Ein anderer davon, dass er erst vor kurzem, anlässlich einer Taufe, wieder Kontakt zu Kirche bekam.
Vor allem teilen diese Männer und Frauen, was sie haben: Drinnen das mitgebrachte Essen, Gedanken zu Gott und der Welt, ohne Netz und doppelten Boden. Vor der Tür im Zigarettenrauch teilen sie: Lebensfragen.
Am Ende weiß ich nicht, wer an diesem Tag für wen gesorgt hat. Aber dass da nach dem Reich Gottes getrachtet wurde, das steht fest.
Seht also hin. Auf diesen lässigen Septembersonntag.
Seht also hin. Auf diesen Abschiedssonntag.
Seht also hin. Auf diesen Moment der Welt.
Seht und lernt: Die gefährdete Welt. Ja! Die Traurigkeit. Ja! Die Lücken und die Provisorien. Ja! Passt nämlich alles. Für Jesus. Mit Jesus. Stürzt Euch in die zerbrechliche Schönheit, rückhaltlos. Und alles fällt uns zu!
Einstimmen.
Predigt von Dr. Peter Meyer
zum 6. So. n. Trinitatis, 16. Juli 2023
in der Schlosskirche Wittenberg
zu Jes 43,1-6
16.215 Wörter reden Frauen durchschnittlich – jeden Tag! 16.215.
Jetzt wollt Ihr bestimmt wissen, wie viele es bei den Männern sind. Wortkarge 15.669. Jedenfalls hat eine ausgefeilte Studie um die Jahrtausendwende diese Werte ermittelt, die in der renommierten Zeitschrift „Science“ erschien.
Ach, und was könnte ich dazu jetzt alles sagen! Zuerst: Wow! Wenn das nur ungefähr stimmt, dann flüstert und talkt, schreit und parliert, tönt und spricht und textet es wirklich permanent um den Erdball. Bei 8 Milliarden Menschen und im Schnitt 16.000 Wörtern summiert sich das: 128 Billionen Menschenwörter! Tag um Tag. Von ‚guten Morgen‘ bis zum ‚schlaf schön‘.
Manche Wörter merkt man sich trotz dieser Flut leider trotzdem entsetzlich gut. Sieben Jahre alt war ich. Stand hinten rechts im Schulchor. Im Musiksaal. Im Anbau meiner Grundschule, der nach Staub und Linoleum roch. Das Frühlingslied war verklungen. Die Musiklehrerin schaute vom Klavier aus streng in meine Richtung: „Peter, Du brummst!“
Mit diesem winzigen Satz fand nicht nur meine zweiwöchige Karriere im Chor ihr jähes Ende. Sondern auch alle Lust am Singen. „Du brummst!“ Das hallte fortan durch meinen Kopf, wann immer ein Ton aus meiner Kehle kam. Hast Du auch so Wörter im Kopf? Solche Albträume von einem Ohrwurm?
128 Billionen Menschenwörtern täglich geben Anlass, mit den Schultern zu zucken. Zu sagen: „Es sind doch nur Worte!“ So oft: belanglose. Leere. Ungedeckte Worte. Sterbenswörtchen!
Andersrum stimmt es aber auch. Es gibt Menschenswörter, die wiegen mehr als alle anderen unter den 128 Billionen. Jedes Menschen Herzensecke hegt solche Wörter, die ragen heraus. Drei Wörter. Besiegelt vom ersten Kuss. Die Wort-Premieren kleiner Menschenkinder, aus deren Mund zum ersten Mal so etwas wie „Mama“. „Papa“ klingt. Beliebige Wörter dieser unverwechselbaren Stimme. Doch noch, doch wieder erwacht, nach der OP, so kritisch, wie sie war. Sätze wie ein Gesang. Worte, die nicht richtig oder falsch sein können. Wahr, wie sie sind.
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.
Ich weiß genau, wann ich diese Wörter zum ersten Mal so bewusst gehört, dass sie fortan bei mir blieben. Ich saß in der Kirche meiner Heimatstadt. Ähnlich hohes Gewölbe wie hier, neugotisch und sehr weiß. Meine Schwester – war das wirklich noch meine große Schwester, im Hosenanzug und so fern, da vorne im Altarraum? – kniete zur Einsegnung nieder. Und dann wurde ihr Konfirmationsspruch gelesen. 18 Wörter. Eine Offenbarung in vier Teilen:
„Fürchte dich nicht!“ Lichtworte, die bis zu jenen Engeln reichen, die den Hirten auf dem Felde bei den Hürden erscheinen werden.
„Ich habe dich erlöst!“ Ein fremd-wunderbares Wort für Gott, der Dir vorsichtig Deinen Lebens-Knoten löst, Dein Zu-Klein, Dein Zu-Schuldig, Dein Zu-Unfähig, Dein Zu-wenig-Hübsch.
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“ Aus 8 Milliarden: Deinen! Namen!
„Du bist mein.“
Seit jenem Konfirmationstag unter dem gotischen Himmel habe ich diese 18 Wörter hundertfach selbst gesagt. Als ich andere konfirmierte. Tom. Lisa. Samuel. Als wir Herrn Benz zu Grabe trugen. Als wir Emily tauften.
Aber ist es nicht faszinierend? Ich zücke diese Wörter nicht wie meine EC-Karte oder den Führerschein. Nein, nein! Wir schälen sie aus dem Kosmos der Myriaden, der Aberbillionen Wörter, Sätze, Texte heraus, die uns umgeben. Wir schlagen die Hoffnung dieser 18 Wörter wie Funken aus dem Stein. Die Hoffnung, dass sie wahr werden.
Für meine Schwester. Für Herrn Benz. Für Emily. Dich und mich. Wir leihen sie uns schließlich nur aus Jesajas Griffel, der vor Zeiten seiner eigenen, anderen Hoffnung Gestalt verlieh. Seiner Hoffnung für ein ganzes Volk, sein Volk, für Gottes ausgewähltes Volk, für Israel.
aus Jesaja, Kapitel 43
1Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! 2Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen. Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen. 3Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld, Kusch und Seba an deiner statt.
4Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich lieb habe, gebe ich Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben. 5So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir.
Jesajas Gottesworte für Israel.
Einige davon sind von unzerstörbarer Schönheit, für mich jedenfalls. Klar wie Dein Leben im Abendlicht eines langen Sommertages. Licht, das die Ahnung auf Dich legt: Wenn auch alles zum Teufel ginge. Alles! Der Kosmos, die Seelen und die Engel werden weiter singen: Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.
Jesajas Gottesworte für Israel.
Einige davon sind unendlich fremd, mir jedenfalls. Kalt und fremd wie jede grausame Schlagzeile, die bezeugt, dass am Ende noch immer das Recht des Stärkeren gilt. Du kannst verschluckt werden, von den Wogen solcher Worte: Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich lieb habe, gebe ich Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben.
Jesajas Gottesworte für Israel. Die ich höre. Und indem ich sie höre, werden mit einige ewig wahr. Und andere bleiben unendlich leer.
Darauf kommt vielleicht alles an. Wie wir die Wörter aus dem Kosmos der Myriaden, der Aberbillionen Sätze heraushören. Was wir daran herausschälen. Ja, mehr noch: Darauf kommt es an, ob ich mehr höre, als nur mich. Ob auch der Kosmos spricht. Ob ich damit rechne, Gottes ungesehenes Wunderwirken zu hören. Ob ich selbst Steine sprechen und schreien höre.
Dass es darauf ankommt, bezeugt Heidrun Feistner mit ihrem Werk, von dem wir hier an der Schlosskirche jetzt drei Monate lang umgeben waren.[1] Heidrun Feistner bezeugt das, wenn sie aus dem Stein heraus dem Stein Gestalt verleiht. Wenn sie „die Form aus dem Stein befreit“, wie sie sagt, wenn sie „die Skulptur aus dem Stein“ heraus gräbt. Indem sie auf den Stein hört. Was wir sehen, ist Wortfindung im Stein. Und eine steingewordene Weise, in die Welt zu hören. „[D]ie Formen [sind] mit mir durch Worte gegangen“, schreibt sie. Fast alle Skulpturen verbindet die Künstlerin mit Gestalten, die auf unverwechselbare Weise hörten. Die Worte aus dem Kosmos der Wörter schälten. Dichterinnen und Dichter. Engel mit ihrem Blick auf unsere Geschichten. Mit ihrer Suche nach der Wahrheit, die Jesaja vom ‚Herrn, deinem Gott, dem Heiligen Israels, deinem Heiland‘ erwartete. Und die für uns Christi Antlitz trägt.
Deswegen steht die Skulptur der allgemeine Gesang, der Canto General, zu Recht direkt neben dem Altar. Für Dichterzeilen von Pablo Neruda.[2] Von Dichterzeilen von Pablo Neruda her. Zeilen wie diese:
Ihr habt mich gefragt, was spinnt das Schalentier
zwischen seinen goldenen Füßen,
und ich antworte euch: Das Meer weiß es.
Ihr fragtet mich, was erwartet in ihrer durchsichtigen
Glocke die Molluske? Was erwartet sie?
Ich sage euch, sie erwartet wie ihr die Zeit. […]
Wollt ihr kennenlernen den elektrischen Stoff der Stachelarme des Grundes?
Den gepanzerten Stalaktiten, der umherwandernd sich verletzt?
Die Lockrute des Fischerfischs, die in der Tiefe
wie ein Faden im Gewässer ausgespannte Musik?
Was für eine Vorstellung: Alles weiß und wartet und singt. Auch das Schalentier. Die Molluske. Und die Engel sowieso.
Ich glaube, es ist höchste Zeit, so zu hören. Es ist höchste Zeit, nicht zuerst zu hören, was wir zu sagen haben. Wir Menschen, im Kampf um dieses kleine Leben. Von der Kanzel. In den 20-Uhr-Nachrichten. Durch Mikrofone. Nicht nur unsere Bedenken.
Ich glaube, es ist höchste Zeit, zu hören, wie es in dieser Welt singt und tönt. Auch das Schalentier und die Molluske. Wie es in die Kiefernwälder hineinsingt, die nach Wasser lechzen. Höchste Zeit, zu hören, wie die Städte tönen, wenn sie in diesen Tagen wie zu Backöfen, werden, für alle Kreatur, vom Spatzen bis zum Menschenskind.
Es ist höchste Zeit, auch Jesajas Wörter so zu hören. Als allgemeinen Gesang von dem, der alles schuf:
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! […] Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.
128 Billionen Menschenworte erklingen, Tag für Tag. Ach, wenn nur einige davon einstimmen in diesen Gesang, der keinem allein gehört! Und dadurch:
Liebesworte werden. Friedensworte werden.
Worte, nicht richtig oder falsch. Sondern: wahr.
[1] An den Gottesdienst schloss sich die Finissage zur Ausstellung „Die Engel bedenken sich“ der Künstlerin Heidrun Feistner an, veranstaltet vom Forum Schlosskirche. Neben dem Altar der Schlosskirche stand für die Dauer der Ausstellung die Doppelskulptur „Der große Gesang“.
[2] Ambiguität und mögliche Lebensschuld des Künstlers wurden zuvor im Gottesdienst benannt.
Einfach.
Predigt von Dr. Peter Meyer
zum Ostersonntag, 9. April 2023
in der Schlosskirche Wittenberg
zu 1 Kor 15,1–11
Es ist Ostermorgen. Ich muss trotzdem mit einem Stimmungskiller beginnen: Ich hatte Angst vor meiner ersten Beerdigung. Schon klar, beerdigt wird man immer zum ersten Mal. Ich meine: Meine erste Beerdigung als Vikar, als angehender Pfarrer.
Mit dieser Angst radelte ich zum Trauergespräch in die Buchenweg 3. Die Adresse hat sich festgesetzt. Und die Frage auch, die meine Angst anheizte: Was soll ich da sagen?
Klar wusste ich, wie sich Trauer bei mir selbst anfühlt. Wie eine Falltür ins Ungewisse.
Und wie man über den Tod redet und denkt, wusste ich auch, aus Büchern oder Diskussionen.
Aber hinter der Haustür mit dem Kranz und dem getöpferten Namensschild am Einfamilienhaus in der Baumstraße 3 geht es nicht um den Tod an sich. Sondern um einen Mann, der Norbert hieß. Der, wie ich gleich lerne, an der Elbe aufwuchs, zwischen Meißen und Dresden. Mit den Klängen der damals regen Elbschifffahrt im Ohr. Ketten, die über Deck rasseln. Ruppiger Schiffsdiesel. Um Norbert, der 1950 in den Westen floh. Der Hände wie Schaufeln hatte. Und Füße, die wie von selbst tanzten. Und Lippen die küssten. Vor fünf Tagen noch. Aber jetzt nicht mehr. Nie mehr!?
Was soll ich, Peter Meyer, da sagen? Zu seiner Frau, der nach 70 Jahren diese Hände und diese Füße und diese Lippen vertraut waren wie ihren eigenen. Nein: die ihr natürlich vertrauter waren als ihre eigenen. Eine Frau, die dreimal so lang gelebt hat, wie ich.
Andererseits: Was sollte irgendwer sagen. Der Tod ist ja nur scheinbar eine Spezialaufgabe für Pfarrer, Ärztinnen und Bestatter. Schon weil der Tod so ziemlich das einzige ist, was uns wirklich alle angeht. Steueridentifikationsnummer, Pass, Wohnort: egal. Ost oder West: egal. Red Bull Leipzig, Herta, Union oder gar kein Fußball: egal. Alt oder jung: oft genug auch dramatisch egal.
Von diesem eigenartigen Zwiespalt zu schweigen: So viel menschliche Energie setzt das frei, uns unsere Endlichkeit möglichst lange vom Leib zu halten. Die phantastischen Wunder der Medizin! Hygiene und Ernährung. Und andererseits gehen wir so leichtfertig mit dem dünnen Fetzen Atmosphäre, dem schmalen Bereich erträglicher Temperatur um. Solange nur Zylinder fauchen und die Kasse stimmt. Davon, dass Menschen andere Menschen klein kriegen wollen, bis ans Kreuz, bis in den Krieg, mal ganz zu schweigen.
Was sollte irgendein Christenmensch da Kluges sagen. Gerade an Ostern.
Schon die ersten christlichen Gemeinden zerbrachen sich darüber den Kopf. Aus Korinth wissen wir das. Es ist das eine, dass Paulus dort von Jesus erzählt hat. Großes Kino! Von Leben, Tod und Auferstehung. Vor allem von der Auferstehung. Alle Register hatte er gezogen. Sie haben ihm gerne zugehört und noch viel lieber geglaubt: Hier gibt es nichts zu sehen. Bitte weitergehen. Das Grab ist leer. Der Tod hat nichts mehr zu melden! Applaus brandet auf!
Aber dann kam der Tag, Paulus füllte längst woanders die Stadien, da ging es im Korinth plötzlich nicht mehr um den Tod an und für sich. Da ging es um, sagen wir, eine Frau, die Caecilia hieß. „Ja, genau, die! Die man immer schon hat lachen hören, da war sie noch vor der Tür.“ „Ich sage es Dir doch: Es hat sie mitten aus dem Leben gerissen.“ Es ging um Menschen mit zarten Händen. Warmen Stimmen. Unerledigten Geschichten. Getauft. Und gestorben. Da redeten sie plötzlich nur noch leise von der Auferstehung. Und: pssst! Möglichst auch nicht mehr vom Tod.
Paulus hört’s. Und Paulus schreibt. (1. Korinther 15)
1Ich erinnere euch aber, Brüder und Schwestern, an das Evangelium, das ich euch verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht, 2durch das ihr auch selig werdet, wenn ihr’s so festhaltet, wie ich es euch verkündigt habe; es sei denn, dass ihr’s umsonst geglaubt hättet. 3Denn als Erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift; 4und dass er begraben worden ist; und dass er auferweckt worden ist am dritten Tage nach der Schrift; 5und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen. 6Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind entschlafen. 7Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln. 8Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden. 9Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. 10Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist. 11Ob nun ich oder jene: So predigen wir, und so habt ihr geglaubt.
Vermutlich kennt Ihr alle das Gefühl: Man geht in die Knie, um eine Kiste hochzuhieven, die massiv dasteht. Presst vorsorglich die Kiefer aufeinander. Spannt die Muskeln. Und fällt dann fast hinterrücks um, weil das Ding nichts wiegt.
So geht es mir mit diesem Text. Von Paulus erwarte ich natürlich massive Argumente. Differenzierungen. Tiefsinnige Hinweise. Was er den Korinthern schreibt, kann ich aber an drei Fingern abzählen: 1. Jesus war mausetot. 2. Jesus wurde sichtbar auferweckt. 3. Wär’s nicht so, säßet Ihr umsonst hier.
Ich kipp fast nach hinten um. Und erst recht, wenn Paulus schreibt.
Zuletzt ist er auch von mir gesehen worden. Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin, dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe. Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.
Der Profi in mir hätte ja erwartet, dass Paulus wenigstens auftrumpft, wenn er schon so locker an drei Fingern aufzählt: „Sie kennen mich!“ „Wer bei mir Führung bestellt…“.
Stattdessen: Als Letzter habe ich Jesus gesehen. Als das Letzte! Wertlos, wie ich bin, weil ich Christinnen und Christen verfolgte.
Was soll man also sagen, von Ostern? Ich hatte Angst. Der Tag meiner ersten Beerdigung kam trotzdem. Wie ich vorher in die Buchenweg 3 geradelt war, radelte ich jetzt auf den Friedhof. Ich kam in die Trauerhalle und die Urne stand da. Ich kann es nicht anders beschreiben als: Es dämmerte mir.
Ein bisschen so, wie es jenen drei Frauen gedämmert haben muss, im Anbruch des Tages.
Als ihnen dämmerte: Der große Stein vor dem Grab, auf den sie so schlecht vorbereitet waren, ist kein Problem. Als ihnen dämmerte: Worauf wir uns so gut vorbereitet haben: Jesu Leichnam zu salben, ist… eine Lösung, der das Problem abhandengekommen ist.
Mir dämmerte: Kein Mensch braucht mich hier, weil ich einen Vorsprung hätte. Weil ich mehr vom Leben wüsste, als die Frau, die da mühsam Platz genommen hat, dreimal so alt. Oder weil ich besonders cleveren Trost spenden könnte für die Tränen von Kindern oder Enkeln.
Ich stand in dieser Trauerhalle, weil drei Frauen zu einem Grab gegangen waren. Und sie fanden es leer. Und weil Jakobus und Paulus und viele andere den Auferstandenen gesehen hatten. So einfach! An drei Fingern abzuzählen! Ich stand da, weil man mir als Kind davon erzählt hatte. Und weil als Konfirmand das erste Licht in der Osternacht lieben lernte. Ich stand da, weil meine fundamentalsten Zweifel nie etwas Schöneres zutage gefördert haben, als „gestorben und auferstanden“.
Ich stand da, an dem Tag, an dem sie diesen Mann, Norbert ins Grab betten. Um mit auf die Erinnerungen zu schauen: An Hände wie Schaufeln. An lebendige Füße, die wie von selbst tanzen. Und an Lippen die küssen. Ich stand da, nicht, damit ich naseweis etwas sage, was ich weiß, stand ich da. Ich stand, um zu sagen, was es nur in der Fassung „umwerfend einfach“ gibt. Was daran das Beste war, am Leben mit diesen Händen, Füßen, Lippen. Das wird ewig sein! Denn so ist Ostern.
Ich höre seitdem manche Sachen anders. Die Sache mit dem Professor der Theologie zum Beispiel. Der ein Leben lang mit komplizierten Worten beschreiben wollte, wie genau Religion funktioniert. Wie Gott so sei. Und keinem Streit auswich, auch wenn nur um ein halbes Wort ging.
Als er selbst schwer krank, todkrank wurde, und in den letzten Wochen seines Lebens auf seine Hoffnung angesprochen wurde, zitierte er nicht Luther, Kierkegaard, Arendt, Habermas, Sölle, die Bibel oder gar sich selbst. Sondern sagte: „Gott der Herr hat sie gezählet. Dass ihm auch nicht eines fehlet. An der ganzen großen Zahl.“
Bleibt dieser Hinweis von Paulus „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin“. Ich habe noch etwas unterschlagen. Wenn ich an einem Grab stehe oder an einem Taufstein oder auf der Kanzel: Ich kann das nur mit dem Gedanken an die, die diese einfache Geschichte teilen. Nicht abstrakt. Konkret. Ich kann das nur Gefühl von Menschen im Rücken, die sich um diese Geschichte versammeln. So wie Ihr jetzt hier: Unverwechselbare Menschen. Junge und Alte. Mit unverwechselbaren Gesichtszügen. Falten. Narben. Händen, Füßen. Mit Zweifeln vielleicht. Mit Gewissheit vielleicht. Jedenfalls aber: da. Mit da. Aufgestanden gegen die Finsternis.
Wenn Paulus Recht hat, sieht so Gnade aus. Denn: Wenn ich das vor Augen habe, am Grab, am Taufstein, auf der Kanzel, ist ja ganz klar, dass ich nichts aus mir selbst heraus kramen muss. Oder kann. Sonden von Euch aus spreche. Von uns aus. Von uns aus, aus ganzem Herzen. Nichts einfacher als: Der Herr ist auferstanden! Alle Angst ist vergangen.
Einen Menschen
Predigt von Dr. Peter Meyer
zum Sonntag Septuagesimä, 5. Februar 2023
in der Schlosskirche Wittenberg
zu Mt 9,9–13
Ach, das ist doch ein typischer Politiker! Hast Du von diesen Auf-der-Straße-Festklebern gehört? So sind sie nun mal, diese Vermieter! Diese Maklerinnen! Diese Leute aus dem Westen! Aus dem Osten! Die Ausländer! Die Jugend! Die Schwiegermütter!
Der Evangelist Matthäus schreibt (Mt 9-13):
9Als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. 13Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hos 6,6): »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.« Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.
Politiker? Auf-der-Straße-Festkleber? Maklerinnen? Die Jugend? Schwiegermütter? Es ist nicht leicht, Gruppen zu finden, die solche Gefühle wecken, wie: Zöllner zur Zeit Jesu.
Da steht man mit dem Wocheneinkauf an der Kasse. Und der Zöllner sagt: Umsatzsteuer für Dich heute 26%. Da klingelt es an der Tür. Der Zöllner steht da: „Guten Tag. Heute taxiere ich mal, was die Klamotten in Deinem Kleiderschrank wert sind. Ah, hübsch, das Abendkleid, und teuer bestimmt.“ Und was willst Du tun? Obwohl Du genau weißt, dass der sich die Hälfte in die eigene, pralle Tasche wirtschaftet.
Klar, dass sich da die Faust in der Tasche ballt. Ist das bei Politikern so? Auf-der-Straße-Festklebern? Maklerinnen? Der Jugend? Schwiegermüttern? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß: Natürlich gibt es Zöllner. Gibt es das Zöllner-Gefühl auch unter uns.
In meiner Gemeinde in Mainz hatten wir für Gemeindearbeit in einem Stadtteil, in dem es kein Gemeindehaus gab, eine kleine Wohnung gemietet. Für Hausaufgabenhilfe. Bibelkreis. Trauergruppe. So etwas. Unserer Kirchengemeinde wurde das Geld knapp, also mussten wir die Wohnung kündigen. Der Vermieter, der uns sehr geholfen hatte, war kürzlich gestorben. Jetzt sprachen wir mit einem Sohn über nötige Renovierungsarbeiten. Erst nur über Wandfarbe. Dann behauptete er, die Gemeinde schulde eine neue Küche. Habe Sanitärobjekte ausgetauscht. Müsse den kleinen Vorgarten so renovieren, wie das auf den Plänen aus Neubauzeiten festgehalten war. Sei ja nicht sein Problem, dass viele Unterlagen unauffindbar seien.
Ich radele zum Ortstermin. Er fährt im SUV mit Business-Anwältin vor. Einer der schlimmsten Termine, an die ich denken kann. Eigentlich will ich es rauslassen: „Schämen Sie sich nicht? Merken Sie nicht, wie Ihrer Gier jeder Winkelzug, jede Lüge recht ist?“ Eigentlich will ich wie ein Kleinkind zu Boden fallen und das Unrecht hinauf in den Himmel schreien. Aber natürlich muss ich höflich bleiben und sehr korrekt. Was hilft „gerecht“, was hilft „wahr“? Hier geht es um Macht. Und darum, wer am Ende Recht bekommt.
Das war aber nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war: Diesen Mann zum ersten Mal zu treffen. Und von der ersten Sekunde an mein eigenes, zusammengeschnürtes Herz reden zu hören. „Typisch! Sein Auto ist grässlich protzig. Die Stimme: abschätzig. Die Augen: voller List und Tücke.“
Das ist das Zöllner-Gefühl.
Wenn Du in einen Streit gerätst. Wörter fliegen. Bald geht nur noch ums Gewinnen. Bald willst Du nur noch fortlaufen. Dann weißt Du, wie das ist: Eine Zöllnerin zu sehen.
Wenn Du von einem Konzern hörst, der Aktionären die Taschen füllt, indem Kinder für ihn in die Mine steigen. Und von Kriegstreibern, die von Ehre und Frieden faseln. Überall da weißt Du, wie das ist: Einen Zöllner zu sehen.
Wie Jesus, als der durch die Gegend zieht.
Jesus unterwegs. Ihr müsst Euch das vorstellen: wie ein religiöser Rockstar. Sein Ruf eilt ihm voraus. Was Jesus zu sagen hat, ja, das ist krass. Aber das ist längst nicht alles.
Eine Diagnose schneidet durch Dein Leben. Du liegst da, wie auf der Intensivstation, ein bisschen Mensch und fast keine Hoffnung mehr. Jesus streckt nur die Hand aus. Jesus sagt nur ein Wort. Und das Blatt wendet sich.
Jesus unterwegs. Das bringt die Luft zum Vibrieren. „Jesus kommt.“ Kommt da durch die Tür. Dir verschlägt es die Sprache. Gänsehaut. Wie wenn Du wieder findest, wovon Du gar nicht wusstest, dass es Dir fehlt. Wie wenn plötzlich in Dir aufbricht, was Du mühsam in Schach gehalten hast.
So unterwegs sieht Jesus also so einen: einen Zöllner. Der mir meine eigene Ohnmacht vor Augen führt, inmitten schreiender Ungerechtigkeit. Ehrlich gesagt fällt mir eine Menge ein, was Jesus mit seinen vibrations, seiner Macht da anstellen sollte. Dem Zöllner auf den Kopf zu sagen, was wahr ist: „Schamlos ist Deine Gier! Unerträglich, Dein Betrug. Wie kannst Du morgens bloß in den Spiegel sehen?“ Das ist gesundes Gerechtigkeitsempfinden, finde ich. Die Pharisäerinnen und Pharisäer fragen zurecht: „Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern?“.
Aber dann sieht Jesus unterwegs einen Zöllner dasitzen. Wobei, halt, nein! Das stimmt ja gar nicht. Ich sehe „einen Zöllner“. Korrupt, gierig, unfair. Von Jesus heißt es anders:
„Als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus.“
Mit diesem einen Satz ist eigentlich alles gesagt.
Ist gesagt, was Jesu vibrations ausmacht.
Ist gesagt, was Jesus anders sieht als „die Pharisäer“.
Ist gesagt, was „Barmherzigkeit“ meint.
Ist, schließlich, das eigentliche Geheimnis der Geschichte gelüftet. Denn das ist ja weniger, warum er sich zu Zöllnern und Sündern setzt. Sondern vielmehr, weshalb um alles in der Welt die Leute von Jesus in den Bann gezogen werden. So, dass sie ihre sichere Zollbude Zollbude sein lassen und ihren lukrativen Gewinn Gewinn. Weshalb sie sich mit ihn an einen Tisch setzen.
Ist alles, alles dazu gesagt, weshalb ich, weshalb meine wütende, meine verletzte Existenz, genau hinhören soll.
Und ich denke, vermute, dass ihr auch genau wisst, was Jesus anders sieht: „Als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus.“
Wie eng auch immer das Herz des Zöllners. Wie sündig. Wie verstellt sein Blick. Wie gierig jedes kleine Stück seiner Steuer-Rechnung: Jesu Herz schaut über die Steuereinnahmenliste hinaus. Und über die Zöllner-Hände, die sich durch fremde Abendgarderobe wühlen. Hat anderes zu sagen als ein: „Schäm Dich!“
Jesus sieht einen Menschen. Einen Menschen am Zoll sitzen. Der heißt Matthäus, weil er eine Mutter hat und einen Vater, die diesen Namen vor Jahren über einem zahnlos greinenden Bündel geflüstert haben.
Ein Mensch, auf dessen Grabstein einmal „Matthäus“ stehen wird. Und Heller und Pfennig werden vergessen sein.
Diesem Menschen sagt Jesus: „Folge mir!“ „Folge mir“, das sagt kein Rockstar zu seinem Fan, jedenfalls nicht zu irgendeinem. „Folge mir!“ Das sagst Du so, kurz und bündig, so generell und offen, eigentlich nur, wenn Du Dir Deiner Liebe sicher bist. Wenn Du auf diesen Menschen gefasst bist – weil Du gespannt darauf bist, was passieren wird. Weil es für Dich in Ordnung ist, keine Ahnung zu haben, wie genau dieser Mensch ist. Welcher Typ. Welche Kategorie. Mehr noch: Das ist doch die Voraussetzung dafür, einen Menschen nahe kommen zu lassen: Dass Du nicht berechnen kannst.
Jesus, kurz gesprochen, sieht einen im tiefen Sinne liebenswürdigen Menschen: der Liebe würdig. Der Schriftsteller und Menschenkenner Max Frisch hat in seinem Tagebuch davon so geschrieben:
Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält, in der Bereitschaft, einem Menschen zu folgen in allen seinen möglichen Entfaltungen. […]
Unsere Meinung, dass wir das andere kennen, ist das Ende der Liebe. […] [N]icht weil wir das andere kennen, geht unsere Liebe zu Ende, sondern umgekehrt: weil unsere Liebe zu Ende geht, weil ihre Kraft sich erschöpft hat, darum ist der Mensch fertig für uns. […] Wir künden ihm die Bereitschaft auf, weitere Verwandlungen einzugehen. […]
(Max Frisch, Tagebuch 1946-1949, Frankfurt/Main 1958, 31ff)
Jesus sieht einen Menschen. Jesus sieht einen, der die Wahl hat – Matthäus. Und als Matthäus hört, dass Jesus ihn, den Menschen sieht. Als einen, der die Wahl hat. Da glaubt er selbst dran. Steht auf. Verlässt die Zollbude und die Steuereinnahmeliste. Für immer? Keine Ahnung. Aber jetzt sitzt er am Tisch.
Ist das nicht verrückt – und ganz und gar wahr? Der Streit beginnt damit, dass ein Wort das nächste ergibt, über die Schnittblumen hinweg. Dann knallen Türen. Laut hallt’s, in der Sprachlosigkeit. Und die Bilder wachsen: So eine ist die also! Jetzt hat er aber sein wahres, erbärmliches Gesicht gezeigt!
Aber der Weg zurück. Der Weg zurück beginnt immer mit der Ahnung: Dieses Bild ist nicht alles. Ist nicht komplett. Beginnt mit der Ahnung: Da ist doch noch etwas Anderes. Mehr. Für das ich gerne über meinen Schatten springe. Um das ich Tränen vergieße.
Max Frisch, der es sonst nicht mit der Religion hatte und erst recht nicht mit der Kirche, schreibt noch mehr:
Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfassbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen – Ausgenommen, wenn wir lieben.
Das klingt etwas komplizierter und etwas romantischer, als es ist. Dabei ist es doch fast banal: Du kannst den Sünderinnen und Sündern der Welt begegnen, indem Du ihnen Etiketten aufklebst. Indem Du ihre Sünden aufzählst, laut oder leise. Kein Einsatz für den Klimaschutz zeigen diese Politiker! Nur aufs Geld schauen dieser Vermieter!
Oder: Du kannst der Ahnung folgen, dass etwas von jener Lebendigkeit in ihnen steckt. Etwas von der tiefen Sehnsucht, anders zu sein. Geliebt zu sein. Nicht für dieses oder jenes. Schlicht dafür, ein Mensch zu sein, der heute lebt und isst und trinkt. Und morgen stirbt.
Dann traust Du der Liebe mehr zu als der Sünde.
Das sieht naiv aus, ich weiß. Aber doch nur solange, bis ich in den Spiegel schaue. Ich bin ja selbst ein Sünder. Und wie sollte ich für mich selbst Hoffnung haben, wenn das nicht ginge: Morgen anders zu werden?
Ideen für die Arbeit an der Predigt zu Mt 17,1-9
(letzter Sonntag nach Epiphanias)
Für alle, die nicht dabei sein konnten, einige Ideen-Schnipsel aus dem Predigtimpuls online zu Mt 17,1-19:
- Lies den Text laut und mit Muße. So, dass alle Sinneseindrücke der Szenerie plastisch werden.
- Was an der Szenerie könnte ein surrealistisches, was ein impressionistisches Bild abgeben? Was daran ist komisch?
- Schnappschuss. Selfie. Sprachaufnahme. Video. Es gibt so viele Formen, ‚Hütten zu bauen‘ (oder besser: ‚Zelte‘). Kirchengebäude haben eine Menge davon. Etc.
Vielleicht ist es gut, danach zu forschen: Was wer daran aus tiefstem Herzen festhalten mag. Gelingt das Gehen-Lassen zugleich? - Die Gipfelerzählung enthält Spuren klassischer religiöser Intensiv-Erfahrungen (Metamorphose, Offenbarung, Theophanie). Die Pointe: Vermutlich weniger Antworten, die daraus resultieren. Wohl eher eine neue Sicht auf Fragen.
- Am letzten Sonntag nach Epiphanias: Was, wenn dieser Text Weihachten (Inkarnation) weitererzählt (nicht: noch einmal)? Von der Auferstehung/von Ostern her (V. 9).
- Überhaupt: Erzählen von ’nach der Auferstehung‘: eine Zeitangabe? Eine Existenzform? …
- Schließlich eine literarische Assoziation:
Aus Max Frischs Homo faber. Der Protagonist sitzt im Flugzeug, ahnt und verdrängt, todkrank zu sein. Er weiß und leugnet, Schuld am Tod seiner Tochter zu haben. So fliegt er über die Alpen. Noch einmal. Ein letztes Mal.
„Was ich im Kopf habe: Wenn ich jetzt noch auf jenem Gipfel stehen würde, was tun? Zu spät, um abzusteigen; es dämmert schon in den Tälern und die Abendschatten strecken sich über ganze Gletscher, dann Knick in die senkrechten Wände hinauf. Was tun? Wir fliegen vorbei; man sieht das Gipfelkreuz, weiß, es leuchtet, aber sehr einsam, ein Licht, das man als Bergsteiger niemals trifft, weil man vorher absteigen muß, Licht, das man mit dem Tod bezahlen müßte, aber sehr schön, ein Augenblick, dann Wolken, Luftlöcher, die Alpensüdseite bewölkt, wie zu erwarten war […].“ (Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht, Frankfurt 1977, 196.)
Es gibt viele weitere Assoziations-Bilder. Zu Licht und Schatten. Zu Zwielicht und Abbruch. Aus diesen Tagen. Medial, lokal. Von denen „nach der Auferstehung“ zu reden, mit Mt 17 zu erzählen ist.
Notiert von Peter Meyer Mit Dank für die Kooperation ans Theologische Studienseminar der VELKD, die Göttinger Predigtmeditationen und an Kristina Dronsch!
Anmeldung zu den Predigtimpulsen online auf den Seiten des Studienseminars der VELKD
Unvorbereitet.
Predigt von Dr. Peter Meyer zur Christvesper, Heiligabend 2022
in der Schlosskirche Wittenberg
zu Lk 2,1-20
Am Ende staune ich immer: Das Wichtigste ist vorbereitet.
Bei Euch auch, unterstelle ich mal. Soweit ich sehe, sind alle warm genug angezogen. Keinen entdecke ich, der noch heimlich in der Bank ein Geschenk einpackt.
Ich behaupte nicht: Ich bin auf alles Möglichevorbereitet. Bei mir blieb genug liegen. Dieses Jahr, diese Zeit im Jahr, die Jahre zuvor haben so genagt, so erschöpft. Ich bin froh, dass geht, was muss.
Dass geht, was muss. Herzlich willkommen in der Weihnachtsgeschichte!
Ihre Protagonisten haben nicht jede Eventualität vorbereitet. Aber was man so mit Fug und Recht erwartet, schnurrt wie eine gut geölte Maschine.
Maria und Josef haben sich zeitig auf den Weg gemacht. Wenn man schwanger unterwegs ist, keine kleine Kunst. 157 Kilometer von Nazareth bis Bethlehem. Just in time für des Kaisers Volkszählung. Zwänge gibt es immer. Und Zimmer reservieren war halt noch nicht drin.
In Bethlehem sind sie auf die Touristenströme vorbereitet, so gut es geht. Ressourcen sind nun mal endlich. Das hat sich in 2022 Jahren nicht verändert.
Die Hirten draußen auf dem Felde bei den Hürden haben im letzten Tageslicht Brennholz fürs Feuer aufgeschichtet. Zwo Holzscheite pro Viertelstunde der Nacht, Energiekrise hin oder her.
Und ich wette, selbst bei den himmlischen Heerscharen hing ein Dienstplan am weißen Brett von Wolke sieben, Gabriels Schönschrift mit spitzem Bleistift.
So tickt die Welt. Ich bereite vor, was ich erwarte.
Na, vielleicht etwas ehrlicher: Ich bereite mich so gut vor, dass es reicht.
Okay, wenn ich ganz ehrlich bin: So gut, dass meine Problemzonen gedeckt sind. Wie diese Lücke in den Zweigen des Weihnachtsbaums. Warum habe ich das vorher nicht gesehen, das braune Loch. Also drehe ich es an die Wand.
Ich bin bestimmt nicht allein damit. Gerade die schmerzhaften Lücken des Lebens erfordern Vorbereitung, die Mühe um ein Stück Geschenkpapier, das doch bitte, bitte, jetzt noch ganz um das Geschenk herumreicht. Das Lächeln muss halten, bitte, bitte. Genau so lange, bis die Tür wieder ins Schloss fällt.
Alle Welt und die Leute in der Weihnachtsgeschichte sind gut darin. Selbst das Mädchen Maria: Kaum schiebt der erste Hirte die Stalltür auf, steht sie schon wieder auf zittrigen Beinen.
Nur der eine, von dem ich noch gar nicht sprach. Um den es heute geht. Den sie ewig und 24 Tage erwarteten. Der sich geheimnisvoll ansagen ließ. Fällt endlich so unvorbereitet in die Welt, dass es ein Skandal ist.
Es begab sich aber zu der Zeit: Sie gebar ihren ersten Sohn. Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.
Eine Geburt. Ein Neugeborenes. Eine Krippe. Macht Euch keine Illusionen: Ein Futtertrog war es. Da kann Josef noch so eifrig die nasse Häckseleinlage zur Seite geschoben, mit dem Lumpen die ölige Schicht Ochsenspeichel bearbeitet haben: Das bleibt ein erbärmlicher Ort für ein Neugeborenes. Für die hilflos zuckende Bewegung winziger Ärmchen. Für fast durchsichtige Haut. Ein schlechter Ort!
Ähnlich schlecht wie der Schutzraum in Kiew, oben der zweite Raketenalarm in dieser Nacht. Ein ähnlich schlechter Ort für ein Neugeborenes wie die überfüllte Kinderstation: „Wir arbeiten am Anschlag. Leider kein Bettchen mehr frei. Wir können nur herumtelefonieren.“ Ein ähnlich schlechter Ort wie eine Welt, in der sich die einen ihre eigene Weltraumrakete bauen, wie ein Spielzeug. Und den anderen fehlt eine Handvoll Reis.
Aber machen wir uns nichts vor: Für Gott, den himmlischen Vater, ist jeder Ort der Welt schlecht. Jedes Leben. Das Leben unter uns. Die wir alle Hände damit zu tun haben, allzu kurze Verpackungsstücke über allzu garstige Lücken zu ziehen.
Es begab sich aber zu der Zeit. Es begab sich ABER.
Was um alles in der Welt denkst Du Dir dabei, Gott! Du! Der, so sagt man doch, alles weiß und alles kann.
Du! Der mich atmen lässt und denen um mir herum Gestalt gibt. Warum da, warum so, um alles in der Welt? Als Mensch! Als Menschenbündel. Mit Augen, die nicht sehen. Mit Händen, die nichts greifen. In der Tiefe der Nacht.
Aber ich höre die Engel: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude!“
Es kann nicht anders sein. Es muss sein. Musste so sein. Eine ganz normale Menschengeburt, von Gott, für Gott. Unter allen anderen ganz normalen, schrecklich-grandiosen, unwahrscheinlich-wunderbaren Menschengeburten.
Für uns.
In meinem persönlichen Jahresrückblick hat ein ungewöhnlicher Engel seinen Auftritt. Bei einer Veranstaltung letzten März sprach ein Naturwissenschaftler, ein Botaniker, über den Zustand der Erde. Ohne Theatralik. Mit Wissen, Diagrammen. Und vielen Zahlen. Die zeigen, wie dünn die Haut unseres Planeten ist. Die wunderbare Haut, in der Leben pulst, von der Ameise über das Nashorn bis zu den Menschlein. Eine zum Reißen gespannte Haut. Eigentlich schon längst: am Reißen.
Nach dem Vortrag schnellt der Finger eines Mannes in die Höhe: „Wenn die Krise so fortgeschritten ist. Und unsere Reaktion drauf so ungenügend. Eine persönliche Frage: Wäre es nicht richtig, wenn die Menschheit keine Kinder mehr in diese Welt setzte?“
Ein Ruck geht durch den Botaniker. Und wie die Klarheit des Herrn leuchten die Worte aus ihm heraus: „Jedes Diagramm, das ich hier zeige. Dass ich hier stehe. Das hat nur Sinn, wenn noch ein Kind zur Welt kommt. Selbst Verzweiflung ergibt nur Sinn, wo Leben ist.“
„Siehe, ich verkündige euch große Freude!“ Da ist die Krippe. Der Futtertrog. Und Gott liegt da. Runtergekommen. Dünnhäutig am schlechten Ort. So, wie ein Schneider den fein gestrickten Pullover aus der Hand seiner Kundin greift. Das Loch klafft mit losen Maschen. Und er markiert es satt-gelb mit Schneiderkreide. Oder die Straßenbaufirma, die Schlaglöcher mit pinker Sprühfarbe umrandet.
Am schlechten Ort dieser Welt entfacht Gott neues, schreiendes, atmendes, göttliches Leben. Umrandet ihn mit Hirten, die staunen, dampfen, strahlen. Mit allen, die dann kommen. Mit uns, heute, hier. Wie wir staunen, singen, strahlen. Das Ergebnis reiflichster göttlicher Vorbereitung. Und hält uns Vorbereitungsgenies den Spiegel vor: Es begab sich nicht einfach zu der Zeit. Es begibt sich! Ja, wirklich.
Der ICE rast durch den Dezemberabend. Ich bin schwer beschäftigt, klar. Bis ich das lockige Kleinkind im Vierer schräg vor mir entdecke. Wie es unruhig in den Armen seiner Mutter erwacht. Seine fieberglasigen Augen tasten durchs Großraumabteil. Kein guter Ort für ein krankes Kind. Ich schaue und kann gar nicht anders. Ich schaue hin, als leistete mein Blick Magie der Beruhigung. Als könnte mein Blick Trost sein.
Und dann bemerke ich: Ich bin nicht allein. Der versunkene Nadelstreifenanzugträger lugt jetzt über seine Laptopklappe. Das Mädchen mit den klobigen Kopfhörern pendelt immer wieder zwischen ihrer Soundwelt und dem kleinen Gesicht. Wir sitzen plötzlich alle im selben Zug.
Es ist, als strahlten diese kleinen unruhig fiebrigen Augen Goldstaub in die Reihen.
Ausdruck einer Macht, die kein roter Teppich dieser Welt verleiht. Ehrfurcht, wie sie keine Armee der Welt einflößt. Ich sehe zu, wie unsere ernsthaften Vorbereitungen zu Boden plumpsen. Hochgezogene Augenbrauen gehen unter, im alten Spiel, Lächeln und Zurücklächeln. Zeitenwende im ICE 596.
Es begab sich aber zu der Zeit. Es begibt sich!
Wenn das so ist: Dann ist das Wichtigste nichtvorbereitet. Bei euch auch nicht, unterstelle ich mal. Auf welche große ganz normale, unwahrscheinlich-wunderbare Sache bin ich je vorbereitet.
Auf die Liebe, über die so viel geredet wird, in diesen Tagen? Ach, fragt jemanden, der frisch verliebt ist. Frag, wie vorbereitet sie sich fühlt, beim Gang aus dem Haus, Herz über Kopf.
Auf welche Sache bin ich je wirklich vorbereitet?
Auf den Abschied? Wer so ein winziges Bündel sieht. Zu zart. Zu eigensinnig, zu tief, diese Augen. Frag junge Eltern, wie vorbereitet sie sich fühlen. Für das was ist. Und kommt.
Deshalb ist das die eine, ganze weihnachtliche Hoffnung: Es begibt sich, unvorbereitet.
Ach, dass es sich begibt, Kind, unser Heiland! An den dunkelsten Plätzen der Welt, zwischen Zeltplanen und Terror, kommt die Hoffnung zur Welt. Und riskiert für die Freiheit das nackte Leben. Unvorbereitet.
Ach, dass es sich doch begibt, Kind, unser Heiland! Die schiere Würde der Kleinsten, der Ärmsten, der Einfachen fegt die Macht aus der Welt, die über Leichen geht. Unvorbereitet.
Dass es sich doch begibt! Dafür feiert heute Weihnachten. Feiert es froh. Und wenn etwas aus der Ecke kriecht, schmerzhafte Lücke. Dann nehmt es an. So unvorbereitet. Bedenkt es mit Glanz. Mit offenen Herzen. Mit guten Worten. Denn da erblickt Gott das Dunkel der Welt. Es wird licht. Und Weihnachten.
Im Licht.
Predigt von Dr. Peter Meyer
zu Eph 5,8+15-20
am 16. Oktober 2022 (18. Sonntag n. Trinitatis) in der Schlosskirche Wittenberg
Was sind das denn für Menschen? Empört frage ich das. Mich. Das Universum. Gott vielleicht, an einem frommen Tag. Was sind das denn für Menschen? Die schon wieder den allgemeinen Kellerflur mit Sperrmüll vollstellen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Was sind das denn für Menschen? Die im Supermarkt einen Speisequark, Magerstufe, mitnehmen, um ihn dann – upps, den wollte ich ja gar nicht – kurz vor der Kasse im Keksregal ablegen, in der Lücke zwischen de Beukelaer und Wikana. Geht’s noch?
Was sind das denn für Menschen? Ich kann mich in die Frage reinsteigern. Aber genauso fürchte ich die Antwort. Weil ich sie ja kenne. Also: Ob es jetzt Frau Müller oder Herr Siebentreu waren. Das weiß ich nicht. Aber ich weiß: Das machen keine Außerirdischen. Keine Menschen mit grünen Ohren. Das machen Menschen wie Du und wie ich.
Ich fürchte mich vor dieser Antwort. Nicht so sehr, weil vielleicht einer unter uns sitzt. Der schon mal Quark im Keksregal entsorgt hat und jetzt rot anläuft. Sondern weil diese Menschen. Menschen wie Du und ich. Doch vermutlich einfach denken: Ach, darauf kommt es nicht so an. Es wird schon jemanden geben, der das wegräumt. Die dafür bezahlt wird. Oder vielleicht auch gar nicht so denken. Weil es ihnen geht wie meinem Konfirmanden, als die Putzdienste auf der Konfirmandenfreizeit eingeteilt wurden. Im Brustton der Überzeugung gab er zu Protokoll: „Also, bei uns zu Hause wird die Toilette nie geputzt. Ist trotzdem immer sauber.“
Ich fürchte diese Antwort. Weil ich zwar nie auf die Idee käme, gewissenlos einen Quark ins Keksregal zu wuchten. Pfarrer-Ehrenwort. Aber mich sehr wohl schon bei diesem Gedanken ertappt habe: Ach, darauf kommt es nicht so an. Und bei meiner eigenen Gedankenlosigkeit.
Energiesparen? Ja, schon wegen des Klimas, furchtbar wichtig. Aber dass man deshalb kalt, kurz, weniger duschen kann? Ach, darauf kommt es doch nicht so an. Kam es auch bei mir nicht so an, bis jetzt. Und jetzt geht’s. Ich fürchte die Antwort. Weil ich selbst das bin: Das Schulterzucken. Die Gedankenlosigkeit. Im Nachhinein, natürlich.
Unser evangelisches Christentum trägt seinen Teil dazu bei. Weil es Luthers wichtigste Idee so furchtbar einseitig kultiviert hat. Da prangt sie über der Thesentür. Leuchtet durchs Glas, dieser Vers aus dem Römerbrief: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Eine explosive Befreiung sollte das sein: Du bist Gott recht, Gott zu eigen, von Gott erfüllt, ohne eigenes Zutun. Aber Gott ist klein geworden, wie ein Satellit hinter Wolken. Und schulterzuckend wabert vor allem noch „ohne Werke“ herum.
„Kommt nicht so drauf an. Was Ihr tut. Was Du von Dir selber hältst.“ – „Wer Du so bist.“
Und dann diese Worte aus dem Epheserbrief (Kap 5): 8Ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts; […] 15So seht nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise, 16und kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse. 17Darum werdet nicht unverständig, sondern versteht, was der Wille des Herrn ist. 18Und sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom Geist erfüllen. 19Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen 20und sagt Dank Gott, dem Vater, allezeit für alles, im Namen unseres Herrn Jesus Christus.
Was für ein radikaler Kontrast! Gleißend, so, wie die Sonne über dem Nebel aufgeht, der auf den Elbwiesen liegt. „Wandelt als Kinder des Lichts. Seht nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt.“ Du bist ein Kind des Lichts! Du glühst das Geheimnis der Welt, Gott, die unnennbare, nie versiegende Kraft in die Welt hinein! Brillante Ideen. Das eine Wort zur rechten Zeit, leise, aber wahr. Ende allen Schulterzuckens.
Im letzten Monat habe ich einen langen Podcast mit Thomas Zurbuchen gehört. Ein hier fast unbekannter Astrophysiker. Aber der vermutlich einflussreichste Wissenschaftler der Welt. Er ist Forschungsdirektor der NASA und verfügt er über einen Mammutetat. Plant Riesenteleskope. Den Flug zum Mars. Aufgewachsen ist er in Heiligenschwendi, einem Bergdorf in der Schweiz, als Sohn eines Predigers und Missionars. Als braver Christ.
Dann brach er aus. Aus einer engen Glaubensgemeinschaft. Aus der Enge der Berge. Aus dem schulterzuckenden Urteil des Lehrers: Kein Dorfbub braucht höhere Bildung. Aus der Familie, als sie ihn vor die Wahl stellte: Deine Freundin oder wir. Thomas Zurbuchen, das müsst Ihr Euch dazu vorstellen, spricht das langsame, eindringliche Schweiz-Berner Hochdeutsch – und leichten amerikanischen Akzent dazu. Spricht ohne die Illusion, Gott in Regeln, Riten, Richtigkeiten packen zu können.
„Es gibt zwei Arten, über Gott zu sprechen. Das eine ist in der Natur. […] Die andere Art und Weise, über Religion zu sprechen, ist im Leben von Menschen. Als ich an der Uni Professor war hatte ich immer die religiöseste Gruppe. Und alle Religionen waren bei mir. Und die Art und Weise wie das passiert ist? Niemand hat über Religion gesprochen außer ich. Ich habe gesagt: Ich habe überhaupt kein Problem, wenn jemand religiös ist. Eine Bedingung: Die Art und Weise wie Du über Deine Religion sprichst ist mit Deinen Taten. Nicht mit Worten. Du wirst mich überzeugen. […] Du musst mit Deinem Leben zeigen, dass es Dir wichtig ist. Du kannst nicht evangelisieren. Du kannst nur Leute überzeugen mit Deinen Taten. [Zeit Online Podcast: Alles gesagt? vom 2.8.2022: Thomas Zurbuchen, wann findet die Nasa Leben im Weltall?]
Als ich das hörte, hat es mich regelrecht erschreckt. So, wie es der reiche junge Mann [in der Lesung, Mk 10,17-22] erschrickt. Der an alle Gebote einen Haken machen kann: Niemanden getötet. Check! Nicht gelogen. Check! Insgesamt einfach: nichts gemacht. Check! Nichts falsch gemacht. Und Jesus rüttelt ihm: „Schau doch, wer Du so bist, Mann. Mit Deinem Hab und Gut. Das wird gebraucht!“ Jesus sagt es – und ihm fällt seine Gedankenlosigkeit wie Schuppen von den Augen.
Für den Moment sieht es bei dem jungen Mann so aus, als erstarrte er. Und wenn man den Epheserprief so hört: „Kauft die Zeit aus, denn die Tage sind böse.“ Und die bösen Tage so sieht: Krieg in Europa. Nukleardrohung. Da fühlt sich das wie irrsinniger Druck an, dieses: Du wirst gebraucht. Wer auch immer Du so bist, Mann, Frau. Dabei wird umgekehrt ein Schuh draus.
Greta Thunberg wird oft gefragt, wie es kam, dass sie kleines, unbekanntes Mädchen zu einer global bekannten Aktivistin wurde. Sie erzählt dann davon, dass ihr die Bilder von einer Dokumentation über Eisbären nicht mehr aus dem Kopf gingen. Sie wurde depressiv. So, wie die bösen Tagen viele, gerade junge Leute förmlich erdrücken. „Wie kamen Sie da raus, Greta?“ „Es war der Aktivismus, der mich gerettet hat. Für etwas zu kämpfen, das sinnvoll ist. Das hat sich bedeutsam angefühlt und mir aus der Depression geholfen.“ [Das Erste/maischberger vom 12.10.22, Klimaaktivistin Greta Thunberg im Exklusiv-Interview]
„Sauft Euch nicht voll mit Wein“, macht der Epheserbrief draus. Kein gesundheitspolitischer Ratschlag, sondern: Betäubt Euch nicht angesichts des Schreckens. Weg mit dem Dämmmaterial aus Schulterzucken und Selbstverkleinerung. Macht Euch empfindlich.
Nicht damit, sondern weil Gott uns liebgewonnen hat. Mit Licht durchstrahlt wie das Fenster über der Thesentür. Und Du strahlst es aus, Kind des Lichts. Ob Du Dein Profilbild nur mit Mühe anschauen kannst? Du strahlst! Ob Du Dich schon für die nächste Woche zu schwach fühlst? Du strahlst! Der Flügelschlag des Schmetterlings kann einen Sturm auslösen. Der Atemzug der Ameise einen Hagelschauer. Dahinter steht der Geist Gottes wohl kaum zurück. Bei keiner hier, bei keinem hier.
„Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen“, rät der Epheserbrief schließlich. Also noch ein Lobgesang: Zur Gemeinde, in der ich in Mainz Pfarrer war, gehörten Wohnhochhäuser, die man in den achtziger Jahren buchstäblich in einem Autobahnkreuz errichtet hatte. Ewig gab es im Quartier Zoff darum, wie es da aussah: Die Männer vom Kiosk und ihre zerbrochenen Flaschen. Die Jugend und der Müll. Die Gassigeher, ich will nicht davon anfangen. Bis einige Leute auf eine Idee kamen. Sie rodeten die Brombeeren rund um den Hochspannungsmast an der Autobahn. Säten Rasen ein. Überzeugten die Stadt davon, ein Hüttchen zu bauen. Die Kinder bepflanzen Hochbeete. Die Jungs vom Kiosk hatten ein waches Auge auf „ihre Wiese“. Die Jugend lud zum Grillen ein, auch die Gassigeher.
Ich glaube, der Wille des Herrn, von dem der Brief spricht, ist keine komplizierte Formel, eng und mit unverständlichen Zeichen auf eine Tafel geschrieben.
Ich glaube, der Wille des Herrn ist eine schlichte Antwort auf die Frage: Was sind wir denn für Menschen? Wo es für Gott doch auf Dich und mich ankommt. Kinder des Lichts.
Predigt von Dr. Peter Meyer
am 18. September 2022 (14. Sonntag n. Trinitatis)
in der Schlosskirche Wittenberg
Lesung im Gottesdienst: Jesaja 12
1Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr! Du bist zornig gewesen über mich. Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest. 2Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil. 3Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils. 4Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem Herrn, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist! 5Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! 6Jauchze und rühme, die du wohnst auf Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir!
„Zu der Zeit wirst du sagen.“, sagt Jesaja. Ja, klar, sagt er sowas: Propheten prophezeien. So, wie Gärtner gärtnern und Bäckerinnen backen. Zukunft ist ihr Thema. Ist ja auch ein Menschheitsthema. Ist mein Thema. In einer zukunftsbesessenen Welt.
Mit ihren Berechnungen und Grafiken und Skalen: So viel Gas haben wir im Winter. Mit Wirtschaftsweisen und ihren Wachstumsprognosen. Mit ihren Hoffnungen. Von der Blüte, die sie zupft: „Er liebt mich, er liebt mich nicht.“ Bis zur heimlichen Pi mal Daumen Rechnung: Wenn ich jetzt 43 Jahre alt bin – dann kann ich ja wohl noch mit soundsoviel Jahren rechnen. Schön offen ist die Zukunft! Voller Möglichkeiten. Und ungemütlich außer Kontrolle. Voll ungelebter Unheimlichkeit.
„Zu der Zeit wirst du sagen“, sagt Jesaja. Ich höre noch einmal hin – und höre meinen inneren Deutschlehrer erwachen. Wie er knurrt: Woher weiß dieser Prophet, was sein wird – wenn er noch nicht einmal weiß, was er will? In seinem Textchen gehen die Zeiten schrecklich durcheinander: Futur. Perfekt. Präsens. Zukunft. Vergangenheit. Gegenwart. Der Prophet fährt mit den Zeiten Achterbahn.
121Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr! Du bist zornig gewesen über mich. Möge dein Zorn sich abkehren, dass du mich tröstest. 2Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht. 3Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils.
Ein Dank, ein Kompliment, ein Blumenstrauß – der erst noch kommen wird. Zornesröte, die gerade noch glühte. Oder doch aktuell für dicke Luft sorgt. Man oh man! Das ist wie eine Uhr, deren Zeiger in zwei Richtungen laufen. Wie der Anpfiff zu einem Spiel, dessen Ergebnis gestern schon in der Zeitung stand.
Jesaja sagt, wie es gewesen sein wird. Sagt, wer wir gewesen sein werden. Wie wir uns sehen werden, wenn wir unser Hier und Jetzt wie im Fotoalbum betrachten.
So verrückt das klingt: Diese Sichtweise hat etwas an sich, das finde ich betörend schön. Wenn Voraus und Zurück sich treffen. Sich küssen.
Vor zwei Wochen war ich bei der Trauung meines alten, meines uralten Freundes Thomas. Mit ihm war ich in der evangelischen Jugend aktiv. Vor gut zweieinhalb Jahrzehnten, in meiner Heimatstadt Bad Nauheim. Und wie es so ist, in einer kleinen Stadt: Viele der Gäste, Freund:innen der Braut, waren damals ‚unsere‘ Gruppenkinder, Kindergottesdienstkinder. Die meisten habe ich über zwanzig Jahre nicht gesehen. Und auch, wenn ich mich dabei furchtbar alt fühle. Ich konnte gar nicht anders: Die Szenen überlagerten sich.
Ich sehe Kinder im Kreis stehen, beim Spielen auf der Wiese vor der Kirche. Nur Philipp, vielleicht sieben, tanzt schon wieder aus der Reihe. Wälzt sich auf dem Boden. Zwickt seine Kreisnachbarin. Versetzt Thomas und mich zuverlässig in Rage. Und seine Eltern in Sorge: Wie soll das mit ihm werden, in Zukunft?
Und ich sehe den Mann, der draußen auf dem Vorplatz vor dem Festsaal an der Säule lehnt. Jetzt zum x-Mal in die Hocke geht, brummend den 57. Kiesel bewundert, den sein kleiner Neffe an der Hauswand entdeckt hat. Philipp, diese vielen kurzen Menschenjahre später. Mit Bart und Herz und aller Ruhe.
Es liegt etwas betörend Schönes darin. Im Voraus und Zurück. In diesen melancholischen Tagen musst Du nur die Augen aufmachen, um es überall zu entdecken.
Über die Liegewiese des Freibads wirbelt nur noch Kastanienlaub. Der Sprungturm gähnt gelangweilt gen Himmel. Aber das Becken glitzert doch noch in der Sonne wie eine Einladung. Sachter Wind kräuselt das Wasser, als zögen unsichtbare Schwimmer ihre Bahn. Das Gefühl ist noch da. Jubelndes gurgelndes Lachen. Jauchzendes Rutschen. Sonnencreme und Pommesduft liegen in der Luft. Und gleichzeitig ist nie, nie mehr Vergangenheit als jetzt. Nach Saisonschluss.
Es liegt etwas betörend Schönes darin. In dem Voraus und Zurück. Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr! Eine Spur Einverständnis. Eine Einwilligung ins Werden und Vergehen. Das jede Berührung ausmacht und jeden Ton. So schaut Jesaja für sein Volk, für Gottes Volk, für Israel voraus. Und zurück. Wer wir gewesen sein werden. Und zwar nicht, weil immer alles gut ausgeht. Wer wollte das auch glauben?
Jesaja kennt den Krieg, den elend endlosen Krieg zwischen Israel und den Nachbarn. Jesaja kennt politische Fehlentscheidungen, zum Verzweifeln, machtbesessen, blind. Kennt eigene Meinungsumschwünge. Persönliche Niederlagen. Er erlebt, wie die sorgsam übereinandergestapelten Zukunftspläne ins Rutschen geraten. Er erlebt das wie Du, wie ich. Wie alle, die sich auch in Wittenberg davor fürchten, dass sie im Winter zwischen warmer Wohnung und warmen Essen entscheiden müssen. Wie die, die in Isjum Leichen exhumieren, bis zur Erschöpfung. Und, ja, auch wie die, die morgen Abend wieder auf dem Arsenalplatz tönen werden: „Sichere Zukunft ist ein Klacks! Wenn wir uns um uns kümmern. Was scheren uns die Details, der Krieg, die anderen?“
Jesaja setzt auf mehr als Weiter-Wachsen. Auf mehr als berechenbare Sicherheiten. Auf mehr als alles, worauf ich irgendein Recht anmelden kann. Weil Jesaja die Zeiger der Uhr gegeneinander laufen lässt. Voraus und zurück. Deshalb nennt er Bedrängnis und tausend Unsicherheiten: Zorn Gottes. Oder besser: Er sagt: „Gell, Du hast vor Wut geschnaubt, Gott?“ Über meine Selbstsichtigkeit. Über unsere Kurzsichtigkeit. Vor Wut darüber, dass ich so schnell vergesse: Was ich heute vermisse. Und ich vermisse so viel: den Sommer, meine glatte Haut, diesen Herzensmenschen. Was ich heute vermisse und beklage: Das war mir, dir, uns gestern geschenkt. Umsonst. Betörend schön!
Da ist die erste Frage nicht mehr: Warum tut die Welt mir unrecht? Sondern: Warum werde ich diesen Gottes-Wundergaben so selten gerecht?
Also sagt Jesaja auch nicht einfach, wie es sein wird. Er singt, was sein wird. Poesie statt Prognose.
Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen
aus den Heilsbrunnen.
Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem HERRN,
rufet seinen Namen an!
Jauchze und rühme, du Tochter Zion; [das ist Jerusalem]
denn der Heilige Israels ist groß bei dir!
Der Tag der Familie begann. Begann wie immer. Frühstück, Schule. Metronom des Alltags. Einzige kleine Abweichung: Der Vater hat vormittags einen Arzttermin, eine Routinesache. Aber dann: Auf der Stelle überweist ihn die Ärztin weiter.
Zu Hause, es ist die Zeit vor den Handys, finden sie nur eine eilige Notiz in der vertrauten Handschrift: „Muss zur Untersuchung in die Uni-Klinik. Wird dauern.“ Die Mutter tigert unruhig durch leere Räume. Die Tochter starrt durchs Fenster auf Straßenlaternen, die sinnlos leuchten.
Ewig spät, viel zu spät: Das vertraute Geräusch, sein Schlüssel in der Tür. Vaters fahles Gesicht. Bericht am Küchentisch, in knappen Worten: Ein Tumor. Ein Tumor im Kopf. Mehr weiß man noch nicht. Aber die Zukunftsbilder rasen ja längst.
Die Welt ist schon fast zerfallen. Er schaut seine Tochter an, plötzlich gefasst: „Unten im Speisekeller. In der kleineren Weinablage rechts. Da liegt im unteren Fach eine einzelne Flasche. Da müsste ein Zettel dran kleben: ‚wertvoll, nicht trinken‘. Hol die doch bitte hoch.“ Dann stehen Gläser im Kerzenschein. Er holt Luft. „Den hätten wir längst trinken sollen!“, sagt er. Und: „Was auch immer sein wird. Das, was war, und das, was jetzt ist. Das kann uns keiner nehmen.“
Jesaja singt vom Voraus und Zurück.
Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr! Du bist zornig gewesen über mich.
Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht.
Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen
aus den Heilsbrunnen.
Mit dem Singen ist es wie mit der Liebe. Du kannst es nicht ‚nur zur Probe‘ tun. Du kannst dir keinen Vorrat davon anlegen. Du kannst nicht nur mal so vorführen, wie es morgen klingt.
Wer singt, singt. Punkt. Vielleicht schräg. Vielleicht vorsichtig. Aber singt!
Als Jesaja das Lied singt, das sein Volk singen wird, wenn es sieht, was es gewesen ist – ist alles ganz da, was ewig gewesen sein wird.
Ich weiß nicht, wie die Zukunft werden wird. Ich weiß nicht, ob der Winter nur unkomfortabel sein wird oder schrecklich oder ganz okay. Ich bin nicht gut mit meinen Prognosen. Ich weiß nicht, was dazu führen wird, dass möglichst wenige Menschen in der Ukraine leiden müssen.
Aber ich weiß, ich glaube: Wie immer es kommen wird. Schmerz. Verzicht. Schönheit. Morgen. Nächsten Sommer. Wir werden viel welche gewesen sein, die heute Anlass zum Dank hatten. Am Tisch Jesu, wenn wir uns gleich beim Abendmahl treffen. Dankbar für diesen einen Schluck. Für diesen einen Bissen. Wir werden welche gewesen sein, die heute einen Grund hatten, zu singen. Von den Fäden Ewigkeit in unserem Zurück und Voraus. Es klingt ja schon. Es klingt ja schön. Und verändert, was sein wird.
Ich will noch ein Grußwort hören!
Die große Kunst der kleinen Rede
Freitag, 3. Juni 2022
Wer ein Grußwort hält, gibt eine verbale Visitenkarte ab. So weit, so richtig. Ein Irrtum hält sich aber hartnäckig: Es gehe bei Grußworten darum, WER etwas sagt. Solange es nur wertschätzend ist oder staatstragend.
Wenn Sie, sagen wir, die Königin von England, ZDF-Frontfrau oder Fußballnationalspieler sind, funktioniert das. Sie können jetzt aufhören zu lesen.
Bei allen anderen ist es leider anders. Und damit meine ich uns alle, die heil durch den Supermarkt kommen, ohne um ein Autogramm gebeten werden. Wir tun gut daran, der Tatsache kühn ins Auge zu blicken: Dass ich etwas sage – Betonung auf ICH und auf DASS – sagt an sich fast nichts. Und wenn es früher auch zehnmal anders war, für Herrn Pastor, Frau Dekanin, den Vorsitzenden. Für Oberkirchenrat, Präses oder Bischöfin.
Selbst das Grußwort aus der protokollarischen Pole-Position bietet nur einen Vorteil. Ihre Hörer:innen prüfen wach: Lohnt sich das Zuhören? Holen Sie Ihr Grußwort deshalb raus aus dem Protokollarischen, rein ins Leben.
Starten Sie mit der ehrlichen Analyse: Viele Grußwortszenarien bieten miese Startbedingungen. Den dramaturgischen Höhepunkt hat die Gesellschaft hinter sich. Das Buffet lockt in Sichtweite. Dem Caterer ist schon vor zwölf Minuten der erste Sektkorken durch die Finger geflutscht. Und jetzt? Jetzt kommen Sie dran.
Ihre Chance: Der Sprung mittenrein. In eine kleine Rede, die dem Publikum etwas bietet, das es sich selbst nicht bieten kann. Die mindestens so viel Energie liefert, wie es den Hörer:innen beim Zuhören abverlangt. Ich nenne das den rhetorischen Energieerhaltungssatz. Dafür gibt es kein Rezept. Aber einige Indizien. Voilà:
Simpel.
Beginnen Sie Ihre Arbeit am Grußwort (und es macht Arbeit!) mit der Frage: Welchen Grund zum Zuhören biete ich diesen Menschen zu dieser Gelegenheit? Was brächte mich selbst dazu, im Stuhl nochmal nach vorne zu rücken?
Wie auch immer Ihre Antwort ausfällt: Es wird immer um einen Kern gehen. Einen interessanten Gedanken! Eine Anekdote von Kraft oder Schönheit! Eine neue Sichtweise! Entwickeln Sie Ihre verbale Visitenkarte konsequent auf diesen Kern hin.
Verwickelt.
Bleiben Sie nicht bei Gedanken stehen. Werben Sie für Ihre Idee, Ihre Sichtweise. Verwickeln Sie Ihre Hörer:innen förmlich darin.
Sie haben einen guten Rat auf Lager? Dann beschreiben Sie, wie es in diesem Stadthallenfoyer zugeht, wenn ihn alle beherzigt haben. Sie steuern auf eine überraschende Pointe zu? Trauen Sie sich, Ihr Grußwort damit zu beenden: Abtritt.
Untrügliche Merkmale so verwickelnder Rede: Starke Bilder. Starke Verben. Da ist nicht irgendwie ein Wind am Wehen, sozusagen. Nein: Der Sturm reißt an den Ästen!
Bloß nicht kurz.
Halten Sie Ihr Grußwort nicht kurz. Kurz ist eine dehnbare Größe. Fragen Sie den YouTuber Ihrer Wahl, einen Callcenter-Manager oder Predigthörerinnen! Halten Sie ein Grußwort, das kürzer ausfällt, als es eigentlich sein dürfte. Bringen Sie Ihr Publikum in die Verlegenheit, zu murmeln: „Davon hätte ich gerne mehr gehört. Wer war das noch einmal?“
Sie selbst.
Darin liegt ein unschlagbarer Vorteil: Der Hauptakt ist schon vorüber ist. Sie müssen nicht als König oder Star reden. Sie müssen keine Rolle spielen. Sie reden, wie es Ihnen entspricht.
Wenn Sie ein Gefühl für Timing und Witz haben: oft ein großartiges Pfund. Wenn Sie gut und gerne erklären: bitte sehr. Wuchern Sie mit allem, was Sie von ganzem Herzen wollen und können.
RePräsentation.
„Ich selbst bin keine Berühmtheit. Aber ich spreche ja für den Kirchenkreis!“ Diesen Einwand höre ich oft. Ein Argument, das den rhetorischen Energieerhaltungssatz entkräften soll. Schön und gut! Hören Sie in Ihrer Phantasie Ihrer Hörerschaft gut zu: Was weiß und sagt sie von sich aus über Ihre Organisation, Ihr Gremium? Ich behaupte: Sie reden dann nicht mehr von „Dank im Namen des ganzen Kirchenkreises“. Oder von der „Wertschätzung des Vorstands“ für diese neue Mitarbeiterin. Aber Sie entfalten vielleicht die Vision von der Kooperation, die heute beginnt. Oder Sie beschwören die Tristesse einer Welt, in der Ihr Vorstand ohne die neue Kollegin auskommen muss.
return to sender.
Grußworte, die ankommen, machen Anwesende klüger, fröhlicher, nachdenklicher. Das funktioniert nur, wenn Ihnen vor Augen steht, wer mit welchen Ideen und Gefühlen mit Ihnen um die Stehtische herumsteht. Denn daraus formt sich eine klare Adresse. Die nur selten „alle“ heißt.
Zum Beispiel geht es gut, sich anlässlich einer Amtseinführung ausschließlich an die Hauptperson zu richten. Der Trick ist aber: Dann muss das für alle, die da sind, eine kleine Offenbarung sein, über sie oder über Sie. Ohne peinlich zu werden. Genauso möglich: Zu einem Dienstjubiläum konsequent nicht die Jubilarin, sondern die Gemeinde zu adressieren. Im Stil der Gratulation, zum Beispiel. Ach, noch etwas: Wenn Sie eine Gabe überbringen: Thematisieren Sie nur, was daran für alle ein Geschenk ist.
Klappt einfach.
Eine klar strukturierte Rede ist die beste Freundin der Kurzrednerin. Ihre Aufgabe ist es, die Mechanik der Rede bewusst zu gestalten. Als Folge von Spannung und Auflösung. Oder: Mit einem Setup, das in eine treffende Pointe mündet. Oder: Durch These, Gegenthese und Synthese. Gestern, heute, morgen. Ein Bild, zwei Sichtweisen. Atemloser Botschafterbericht – kurzer, bedächtiger Schluss. Wie auch immer: Wichtig ist, dass Sie konsequent auf eine Form setzen. (Die Struktur dient Ihrer Vorbereitung – nicht als Zwischenüberschrift im Vortrag!).
Rhetorik auf Papier!
Formulieren Sie Ihre Kurzrede schriftlich – auch wenn Sie Ihr Wort letztlich frei sprechen werden. Oder skizzieren Sie wenigstens Ihre Struktur, gerne bildlich. Schriftform und klare Disposition helfen: Beim Kürzen. Beim Üben. Und auch dabei, sich vom Manuskript zu lösen, ohne rednerische Spannung zu verlieren. (Wenn Sie vor der Wahl stehen, mit Manuskript konzentriert zu sprechen oder in freier Rede zu mäandern, ziehen Sie das Manuskript vor. Freie Rede braucht mehr [!] Vorbereitung als der Vortrag vom Manuskript.)
Training.
Kurzreden sind Handwerk. Und Mundwerk. Das lässt sich lernen. Jede Rede verdient Übung. Jede Rednerin benötigt Training. Ganz besonders gilt das für alle, die routinemäßig öffentlich reden. Routinen sorgen für Selbstvertrauen und Effizienz. Aber auch dafür, dass sich Eigenarten an Text, Stimme, Intonation, Gestik, Mimik etc. einschleichen, festigen und unnatürlich verstärken. Dann hilft ein coachender Blick von außen. Eine Erfrischung fürs Texten. Übungen für den Auftritt. Gibt’s hier am Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur.
(Peter Meyer)
Gebet zur Mitte der gottesdienstlichen Aufführung der Markuspassion von Jan Bender (nach Teil I+II)
Montag, 11. April 2022 in der Schlosskirche Wittenberg
am Palmsonntag 2022
Zu Dir kommen wir, Gott.
Abba, Vater, Lebendige.
„Hosianna“ klingt es wie von Ferne.
Aber ganz nah dröhnen diese Töne:
Vom Verrat ohne Grund.
Von einem Urteil ohne Recht.
Vom nahen Tod ohne Schuld.
Von Deinem Tod, Bruder,
Du geschmähter, verwundeter Gott.
Was für ein Echo findet das bei mir.
In meiner Seele.
In Bildern von ausgekohlten Häusern.
Von Menschenleben, vernichtet wie nichts.
Schreie gegen den Krieg. Nach Gerechtigkeit.
Und sie verhallen.
Durstig nach Frieden rufen wir:
Nimm das weg mit Dir.
Den grauenvollen Krieg:
Reiße den in den Tod.
Den Hass:
Lass ihn nicht am Leben.
Nimm auch meine Ohnmacht auf Dich.
Und all das Schulterzucken.
Hungrig nach Leben bitten wir:
Schlage aus Deinen Wunden Lebensfunken in die Nacht.
Gott, Herr, Bruder.
Du leidest, aber siegst.
Du stirbst, aber alles wird neu.
Aus Dir!
Ach, dass ich das höre!
Amen
(Peter Meyer)
Invokavit.
Predigt von Peter Meyer
zum 500jährigen Jubiläum der Invokavitpredigten Martin Luthers
in der Stadtkirche St. Marien zu Wittenberg im März 2022
Zuvor:
Kantate Es ist das Heil uns kommen her (BWV 009), Teil I
endet mit Tenorarie:
Wir waren schon zu tief gesunken,
der Abgrund schluckt uns völlig ein,
die Tiefe drohte schon den Tod,
und dennoch konnt in solcher Not
uns keine Hand behülflich sein.
Gnade sei mit euch und Friede von Gott unserem Vater und von dem Herrn Jesus Christus!
Der Text taumelt zuerst. Dann gerät die Melodie ins Trudeln. Schon reißen die Worte die Töne und die Töne die Worte mit sich: „Der Abgrund schluckt uns völlig ein. Die Tiefe drohte schon den Tod.“ So geht es. In Bachs Kantate. Und in Wittenberg auch.
Jedenfalls taumelte es in Wittenberg, vor Sonntag Invokavit 1522. Ja, zuerst taumelt es nur:
Ein Priester und eine junge Frau feiern Hochzeit. Jeder Mann auf dem Markt sieht das. Jede Frau in der Hofeinfahrt. Jedes Kind, das seinen Kreisel über die Gasse treibt. Sie staunen. Und palavern darüber.
Es taumelt: Ordensleute hängen die Kutte an den Nagel. Und ihre Gelübde gleich daneben.
Durch das Gewölbe hallten neulich die Worte der Messe, was sonst. Aber das ist schon krass! Mit offenen Mündern hört der Schuster, lauscht die Bauersfrau. Sie verstehen jedes Wort. Hören ihre eigene deutsche Sprache.
Wie ein Lauffeuer rast es durch die Stuben, über Gartenzäune: „Komm, Bruder, auch du trinke jetzt aus dem Kelch beim Abendmahl!“ „Schluss mit dem Fasten. Das braucht Gott nicht.“ „Lass die Beichterei. Die haben die Pfaffen erfunden!“
Manche raunen: „Propheten sind in der Stadt!“ „Von weit her!“ „Mit direktem Draht zu Gott!“, staunt man am Schlosstor. „Mit direktem Draht zum Teufel!“, stöhnen die Gelehrten in der Collegienstraße.
Und dann schleppt auch noch einer ein Bild aus St. Marien, auf Zehenspitzen.
Da ist aus dem Taumeln schon ein Trudeln geworden. Jedenfalls genug, um einige: „Alarm!“ rufen zu lassen „Die Sache läuft aus dem Ruder!“ Worte reißen Taten und Taten reißen Worte mit. Glaubensfragen brechen auf. Fronten entstehen.
Da knarrt Holz, dort drüben, am Pfeiler, am Sonntag Invokavit vor einem halben Jahrtausend. Die schmale Treppe hinauf zur alten Kanzel ächzt. Hälse recken sich. Das wohlbekannte Gesicht erscheint. Luthers Gesicht. Er predigt schon, da hat er den Mund noch nicht aufgemacht. Frisch rasiert, wie er dasteht, die Tonsur exakt geschnitten, in seine Kutte gehüllt. Professor Luther? Prediger vor dem Herrn? Held vom Reichstag zu Worms? Heute steht da Bruder Martin, das Mönchlein aus dem Schwarzen Kloster. Für den Moment taumelt und trudelt nichts. Eine Stecknadel kannst Du fallen hören.
[Aus Luthers Predigt, Invokavit 1522]
Wir sind allesamt zu dem Tode gefordert und wird keiner für den andern sterben. Sondern ein jeglicher wird in eigener Person für sich mit dem Tode kämpfen. In die Ohren können wirs wohl schreien, aber eine jeglicher muß für sich selber bereit sein in der Zeit des Todes. […] Wir sind alle Kinder des Zorns.
Ich glaube, jeder hier versteht sofort, warum er so anfängt. Mit Tod und mit Zorn.
Vielleicht sogar besser als die Wittenbergerinnen und Wittenberger vor 500 Jahren.
Ich sehe es ja seit zehn Tagen auf jedem Programm. Es schnürt mir die Kehle zu. Hat die längst vergessene Angst in der Magengrube geweckt. Dabei bin ich doch nur ein Zuschauer von Tod und Zorn. Vom Krieg.
Ich sehe und realisiere: Alle Errungenschaften bewahrten nur scheinbar davor. Die schönsten Worte. Feierlich verkündete Verträge und gewachsene Zusammenarbeit.
Nie schützte das nackte Leben mehr als eine zarte Hülle. Nie liegt mehr als diese zarte Hülle über Tod und Zorn. Friede ist nur ein Glückshauch, der über Machtlust und Hass balanciert.
Wir sitzen hier, sorgen uns, beten, helfen nach Kräften. In der Ukraine, kaum 800 km Luftlinie von hier, ist alles brutal real. Jede Detonation, jeder Schrei. Wie wahr:
Wir sind allesamt zu dem Tode gefordert. Keiner wird für den andern sterben.
Ich sehe also vor meinem inneren Auge, wie Martin über seinen Predigtanfang grübelt. Vorm groben Holztisch, noch auf der Wartburg. Wie er Berichte Revue passieren lässt. Von den Reförmchen und Revolten, die in Wittenberg erdacht und gemacht werden. Wie er sich ausmalt, was daraus werden kann: Wenn aus dem Evangelium von Jesus Christus eine Ideologie wird. Und aus Kirchenreformen, so dringlich sie sind, eine Frage nach Freund und nach Feind. Nach Front – und Sieg.
Da entschließt er sich, so anzufangen. Denn wenn Ihr schon Glaubensfragen stellt, Ihr Wittenberger, bleibt nicht auf halbem Wege stehen! Geht auf den Kern. Auf die erste Einsicht des Glaubens. Bachs Kantate klingt danach. Jede Nachricht aus der Ukraine schreit davon. Und Martin setzt es an den Anfang:
Ich Menschlein bin aus mir selbst nichts. Immer zu tief gesunken. Zu allem Unheil fähig. Niemals klug. Wenn ich die besten Absichten habe, irre ich mich doch. Rohes Menschsein, zu dem Tode gefordert. Kinder des Zorns.
Im Abgrund dieser Ehrlichkeit lernst Du erst, was Glauben heißt. Und ahnst erst dann: Wie sich die süße Seele des Glaubens bemerkbar macht. In Martins Worten:
[Aus Luthers Predigt, Invokavit 1522]
Der Glaube ohne Liebe ist nicht genug, ja nicht einmal Glaube, sondern ein (bloßer) Schein des Glaubens, wie ein Angesicht im Spiegel gesehen nicht ein wahres Angesicht ist, sondern nur ein Schein des Angesichts.
Uns ist die Geduld not. Die Geduld wirkt und bringet die Hoffnung, welche sich frei ergibt und in Gott schwinget, und so nimmt der Glaube durch viele Anfechtung und Anstöße immer zu und wird von Tag zu Tag gestärkt. Solches Herz, mit Tugenden begnadet, kann nimmer ruhen noch sich still verhalten, sondern ergießt sich wiederum zu dem Nutzen und Wohltun an seinen Brüdern, wie ihm von Gott geschehen ist.
Ohne Liebe ist nicht genug! Komisch, dass dafür ein Reformator auf die Kanzel muss, eigentlich. Du siehst das doch tagtäglich. Wie Nutzen und Wohltun an den Geschwistern geübt wird.
Wenn die Marktfrau am Gemüsestand mit ihren kräftigen Händen zehn Cent zu wenig herausgibt. Wer unterstellt dann böse Absichten?
Und natürlich gibst Du die zwei Euro zu viel zurück, die der Verkäufer beim Bäcker nebenan in morgendlicher Eile über die Theke gehen ließ. Dahinter steckt keine Angst vor Entdeckung und kein Gesetz. Dahinter steckt nur die Lust daran, anderen zu nutzen und wohlzutun!
Vor zwei Jahren brach ich mit meiner Frau auf. Drückend war’s. Gewitter lagen in der Luft über Wittenberg. Eine Probewanderung mit schwerem Gepäck. Wir kamen bis zur Berliner Chaussee, nicht weiter, da übersah sie einen niedrigen Bordstein. Knickte um. Schreck, Schmerz, Schwüle – schon lag sie aufm Bürgersteig.
Noch im selben Moment hielt ein Auto neben uns. Wildfremde Menschen auf dem Weg zum Familienbesuch. Boten Hilfe an. Chauffierten uns zum Krankenhaus. Ohne Eile. Ohne allzu viele Worte. Vergnügt.
Ohne Liebe ist nicht genug! Uns ist die Geduld not. So selbstverständlich, so grenzüberschreitend ist das. Ja, schau Dich nur um, in Deiner Bank, vor Dir, hinter Dir: Jede und jeder hier ist ein zartes Menschlein. Zerbrechlich, ob alt oder jung. Mit der großen Gnade, für eine kleine Zeit hier zu sein. Drum aller Liebe wert! Natürlich, was sonst?
Und doch geht Bruder Martin damit auf die Kanzel. Weil es dieses Gift gibt. Es ist zur Stelle, sobald es ans Eingemachte geht. Wenn Glaubensfragen aufbrechen. Dann schleicht sich die giftige Idee in die Köpfe, auch in meinen. Dann geht es ums Rechthaben. Darum, zu gewinnen und sich durchzusetzen.
Deswegen geraten Nachbarn in erbitterten Streit.
Deswegen wähnt sich der Diktator im Recht oder immerhin irgendwie problemlos in der Lage dazu, sein Nachbarvolk mit Krieg zu überziehen. Die eigenen Leute in den Kampf zu kommandieren, Sterben und Tod einkalkuliert. Menschen, die Eltern haben und Träume.
Deswegen wird ein Virus, eine Pandemie gegen das nackte Leben, zum Anlass für bittersten Streit.
Und aus dem Evangelium von Jesus Christus ein Kampfbegriff, nicht nur 1522 in Wittenberg.
Weil es scheint, als lasse fester Glaube nur diese Wahl. „Ich lass mich nicht verbiegen!“
Tragisch. Falsch!
[Aus Luthers Predigt, Invokavit 1522]
Merk ein Gleichnis: Die Sonne hat zwei Dinge, den Glanz und die Hitze. Es ist kein König so stark, dass er den Glanz der Sonne biegen oder lenken könne, sondern der bleibt an seiner Stelle. Aber die Hitze läßt sich lenken und biegen und ist allwegs um die Sonne. Ebenso muß der Glaube allezeit unbeweglich in unsern Herzen bleiben und wir dürfen nicht davon weichen, sondern die Liebe beugt und lenkt sich, (daß) unser Nächster (sie) zu begreifen und (ihr zu) folgen vermag.
Der Glaube muss unbeweglich bleiben! Die Liebe beugt und lenkt sich!
Dafür braucht es Martin auf der Kanzel. Und deswegen ist es auch 500 Jahre später noch so wichtig, dem Trudeln auf den Grund zu gehen. Diesen Grund:
Wer felsenfest glaubt. Oder doch wenigstens spürt: Mein Glaube ist mehr als eine fixe Idee, die ich mir gestern selbst zurechtgelegt habe, wie Klamotten für den nächsten Tag. Mein Glaube ist ein Glanz, von Gott in die Seele gelegt.
Wer so glaubt oder so ähnlich – verbiegt sich. Verbiegt sich für jedes noch so zarte Menschlein. Für jedes! Nackte! Leben!
Wer so glaubt, stürzt sich in die Geschichte von der Passion Jesu. Wie der sich verbog. Wie der sich für andere verbog. Sich dem Zorn beugte und dem Tod. Liebevoller als Martin Luther, der ja auch nur Menschlein war. Und selbst aus Menschen Feinde machte. Es predigt sich immer leichter als es sich lebt.
Ich stelle mir vor: Wir berühren immerhin Grund solch festen Glaubens. Und verbiegen uns darum. Ach, träumt für einen Moment mit!
Ich kümmere mich nicht mehr darum, ob mein eigenes Weltbild hält. Ob meine eigene Idee davon, wie Frieden aussieht, Kratzer bekommt, angesichts der waffenstarren Gewalt.
Ich kümmere mich nur darum, für den Frieden zu streiten. Auch wenn ich nur ein Wort in die Waagschale werfen kann, wie Tröpfchen in den Ozean. Meist stammele. Oft ratlos bin. Gerade so!
Träumt noch mehr, vom Glauben, der sich verbiegt:
Keiner schlägt mehr die Trommel, weil er meint: Meine Entfaltungsmöglichkeit wird beschnitten!
Aber jede und jeder rührt die Trommel für eine andere. Die nicht zu Wort kommen. Sich nicht mehr aus dem Haus traut.
Träumt auch von der Angst. Von der Angst, die kleiner wird. Angst vor Kosten und Mühen, die uns treffen könnte.
Aber: Die Verwundung der Welt. Die es noch immer und schon wieder und andauernd gibt. Von der Granate im Wohnblock von Mariupol oder der Mine auf der Landstraße in Afghanistan. Lässt keinen mehr ungerührt. Bis Frieden ist.
So geht es, wenn Glaube in die dunkelste Tiefe reicht. Dem Trudeln nicht ausweicht und dem Taumeln auch nicht. Im Abgrund erwacht er zum Leben.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne ist Christus Jesus.
Danach:
Kantate, Teil II
(Peter Meyer)